Paris-Brest-Paris 2003 ... Frankreich auf die schönste Art erfahren!

 

Ein Reisebericht von Ulrich Gehrmann ©, Wunstorf

 

Die Basisdaten zu dem außergewöhnlichen Langstrecken-Klassiker: 18. bis 22. August 2003, Distanz 1.200 km, fast 10.000 Höhenmeter und ein Zeitlimit von max. 90 Stunden, Start 18.08.03 um 22:00 Uhr, späteste Ankunft  22.08.03, 16:00 Uhr. Paris-Brest-Paris ist der wichtigste Radmarathon der Randonneure und findet nur alle vier Jahre statt. Neben 4.000 Teilnehmern aus aller Herren Länder sind die rennradbegeisterten Franzosen am Wegesrand eine besondere Zierde internationalen Sportsgeistes. Hunderte ehrenamtlicher Helfer geleiten uns durch die Kontrollstellen und sicher über gefährliche Kreuzungen.


 

Fotos von uns sind zu sehen: http://ara.randonneure-deutschland.de; PBP 2003 -> Fotos auswählen.

 

Motivation

Solch ein Mammutprojekt PBP ist wie ein dreigängiges Menü: Die Vorfreude vermischt sich mit Hoffnungen und Bedenken, die Veranstaltung selbst ist unweigerlich mit Lust und Leid verknüpft und als Dessert belohnt eine immer wieder abrufbare langanhaltende Nachfreude.

Zuerst ergreift mich ein großer Respekt vor der unglaublichen  Distanz, die unüberwindbar zu sein scheint. Tagelang ist man nur auf das Hauptziel ‚in Paris ankommen’ fixiert und wird dabei auf seine Grundbedürfnisse zurückgeworfen. Werden diese nicht rechtzeitig befriedigt, kann es  bedrohlich für die Zielerreichung werden. Das Risiko für einen Abbruch ist für mich hoch, und zwar, weil meine Achillessehne gerissen war und ich auch noch andere kleinere ‚Gebrechen’ habe, deren Auftreten ich nur begrenzt beeinflussen kann. Die typischen Beschwerden auf langen Strecken machen sich bei den Teilnehmern schmerzhaft bemerkbar am Knie, Fuß, Hintern, Hand und Nacken. Insgesamt brechen die Veranstaltung knapp 15 % der Teilnehmer vorzeitig ab.

Die Vorfreude wächst mit der Beschäftigung vieler neuer interessanter Themen an: Ernährungsfragen, technischer Ausstattung des Fahrrades, insbesondere Stromerzeugung und Licht, Gepäckauswahl und –transport, Taktik und Streckeneinteilung, Entspannungstechniken und Entwicklung mentaler Stärke. Dagegen sind das Training von Kraft, Ausdauer und Fahrtechnik selbstverständliche radsportliche Vorraussetzungen.

Ich hoffe, dass ich mich der Bedeutung des französischen Geburtsnamens meiner Großmutter Emma Vigoureux (d. h. stark) entsprechend fühlen und würdig erweisen werde.

 

Geschichte und Qualifikation

Nur wenige Jahre vor der ersten Veranstaltung im Jahre 1891 war das Fahrrad in seiner heutigen Form entwickelt worden. Der begeisterte Radfahrer und Journalist Pier Gefford beabsichtigte mit dem 1. PBP eine eindrucksvolle Demonstration der Leistungsfähigkeit, Reichweite und  Vielseitigkeit des Fahrrades der skeptischen Öffentlichkeit zu bieten. Wie bei dem Aufkommen jeder neuen Technik gab es natürlich auch zur damaligen Zeit genügend fachlich kompetente Bedenkenträger, die den sicheren Tod der Wagemutigen vorhersagten.

In Deutschland ist nur die A.R.A. - Audax Randonneurs Allemagne (Audax Randonneurs bedeutet verwegene Langstrecken-Radfahrer) autorisiert, die Brevets, zu Deutsch Diplome oder Prüfungen, des Veranstalters Audax Club Parisien, ACP, abzunehmen.

Die Startkarte, Routenbeschreibungen mit Vorgaben von Minimal- und Maximalzeiten bekommt der Fahrer bei der Einschreibung ausgehändigt. Dort ist aufgeführt, an welchen festgelegten Kontrollpunkten die Zeitnahmen und Kontrollstempel mit Unterschriften erfolgen müssen. Die Eigenversorgung mit Lebensmitteln sowie Orientierung und Navigation sind zusätzliche Herausforderungen bei den Brevets.

Die Qualifikationen bestehen aus mindestens vier aufeinanderfolgenden Langstreckenfahrten von 200, 300, 400 und 600 km in bestimmten Mindestzeiten. Brevets sind Langstreckenfahrten auf niedrigem organisatorischem Niveau. An den Kontrollpunkten, zumeist sind es Tankstellen oder Restaurants, kann etwas Verpflegung gekauft werden und vor allem muss die Kontrollkarte dort abgestempelt und unterschrieben werden. Ein Begleitauto ist auf der selben Strecke verboten. Die Teilnehmer müssen die vorgegebene Route einhalten. Die Termine finden bei jedem Wetter statt. Der Weg nach Paris ist also im Rahmen der Qualifikationen für jeden Teilnehmer in Jahr 2003 mindestens 1.500 km lang.

Da meine Frau von mir einiges gewöhnt ist, hörte sie geduldig meinen neuen Plänen zu und wir einigten uns darauf, es sukzessive mit den Qualifizierungsbrevets zu versuchen. Für den Fall, dass es wirklich zu einer Anmeldung kommen sollte, würde sie Urlaub nehmen und mich sogar begleiten wollen. Die Brevets sollten über die Machbarkeit meines Traumes mit entscheiden. Da Hamburg für mich der nächste Austragungsort ist, meldete ich mich gleich für die ganze Serie an. Alle Brevets, d.h. 200, 300, 400 und 600 km bin ich mit dem Faltrad Birdy gestartet und bei 3 Strecken auch mit der ersten Hauptgruppe ins Ziel gekommen. Da ich aber Probleme mit der Sattelstütze auf der Hälfte der 600er Strecke hatte, entschied ich mich doch für das Rennrad wegen der in Frankreich zu erwartenden Probleme mit der Beschaffung von Ersatzteilen für so ein spezielles Faltrad.

Die Brevet-Serie wird weltweit jedes Jahr gefahren und zählt sozusagen zum "Pflichtprogramm" eines Welt-Randonneurs. Fast 70 % der deutschen Paris-Brest-Paris Qualifikanten und PBP Finisher 1999 kamen übrigens nicht aus einem vereinsgebundenen Umfeld.

 

Strecke:

Möglicherweise kennzeichnet das immer wieder von Zuschauern zugerufene „Bon Voyage“  am besten den Charakter der Veranstaltung, die weit mehr als ein Radmarathon ist. Ganz offiziell ist PBP kein Rennen, was schlüssig mit der Einhaltung der Verkehrsregeln begründet wird. Es sprengt deutlich nach Länge und Organisation die Dimensionen von normalen Radmarathons, die üblicherweise etwas mehr als 200 km lang sind.

Vereinfacht beschrieben führt die Strecke von Paris 615 km nach Westen bis zum Wendepunkt Brest am Atlantik und zurück nach Paris. Ein Streckenstudium mit dem Finger auf der Landkarte lässt die vielen Collins (Hügel) des kupierten Geländes nicht erahnen, was sich auf 10.000 Höhenmeter summiert. Der Roc Trevezel ist mit knapp 400 Metern Höhe als der topografische Höhepunkt bei Kilometer 564 auf dem Hinweg nach Brest und auf der Rückfahrt bei Kilometer 665 zu überwinden. Auch wenn die französischen Straßen mit ihrem rauen Asphalt an der oberen Grenze für die Größe des Rollwiderstandes stehen, drückt der die Nähe zur Küste beweisende Seewind normalerweise mehr auf die mentale Verfassung.. Da sind die Teilnehmer im Vorteil, die das Gruppenfahren beherrschen und im Windschatten oder an der Windkante fahren können.

Die Gesamtstrecke teilt sich durch die Kontrollstellen in Etap­pen, obwohl es als Nonstop‑Rennen angelegt ist, denn jeder Fahrer entscheidet über die Einteilung und Dauer der Aufenthalte alleine. Die Sportler kaufen sich wäh­rend der Tour ihre Nahrung in den Selbstbedienungsrestaurants an den Kontrollstellen oder beim nächsten ‚Alimentation’ und legen fest, wann sie ihrem Körper etwas Schlaf gön­nen.

Mit über 4.000 Teilnehmern aus 25 Ländern wurde 2003 ein neuer Teilnehmerrekord aufgestellt.

Der richtige Spaß bei PBP kommt für mich beim Gruppenfahren auf. Im Vorteil sind die mehrsprachigen Teilnehmer. Besonders angenehm ist die Unterhaltung mit den Randonneuren aus aller Herren Ländern, weil man ihnen nicht erst erklären muss, warum man so etwas Verrücktes macht. Hier wird der abgedroschene Begriff ‚Multikulti’ gelebt, weil die Reise schon ein Zweck ist. Das gemeinsame Ziel, die Organisation in einer fahrradfreundlichen Landschaft und die Bevölkerung sind wirklich ein schönes Beispiel für die völkerverbindende Idee.

 

Vorbereitung

Erst im Nachhinein lässt sich beurteilen, wie gut die Vorbereitung gewesen ist. Alle planbaren Komponenten sollten für die ohnehin an unvorhersehbaren Ereignissen reiche Veranstaltung berücksichtigt werden.

Ein besonders intensives Training hatte ich auf das Wiegetritt-Fahren gelegt, um die Körperhaltung abzuwechseln und andere Muskeln zu beanspruchen. Bei jeder Steigung beabsichtigte ich, aus dem Sattel zu gehen und die Trittfrequenz zu variieren. Die Trainingsfreunde Horst, Reini und Harald halfen mir in den letzten Wochen bei den Ausfahrten den Konditionsstand aufzubauen. Nachdem ich schließlich 10 mal hintereinander die steilste Stelle unserer Hausstrecke, eine ca. 1 km lange Rampe, nach Bergkirchen mit Blick auf das Steinhuder Meer im Wiegetritt hochgekommen war, fühlte ich mich für die vielen Steigungen in Frankreich gewappnet.

Wegen des für die Anmeldung notwendigen Gesundheitszeugnisses hatte ich ein langes Gespräch mit meinem sportbegeisterten Hausarzt über Extrem-Ausdauerbelastungen und Ernährungsfragen. Aus anderen Artikeln konnte ich seine Meinung und meine wichtigste neue  Erkenntnis bestätigt finden. Der Körper kann bei solchen hohen Belastungen nicht alle nötigen Spurenelemente in ausreichenden Mengen aus der normalen Nahrung herausziehen und braucht deshalb Nahrungsergänzungsmittel.

Besonderes Glück hatte ich mit der Auskunftsbereitschaft von Bernd aus Lüneburg, den ich auf einigen Brevets schon kennen und schätzen gelernt hatte. 1999 nahm er das erste Mal an PBP teil und hatte damit natürlich einen großen Erfahrungsvorteil vor mir PBP-Greenhorn. Unermüdlich beantwortete er meine 1001 Fragen umgehend per e-mail, wobei mir insbesondere seine abwägende Darstellung von Vor- und Nachteilen bei der Vorbereitung geholfen hat. Entscheiden musste ich, was die Ausrüstung und Taktik angeht später selbst, weil diese sich mit den körperlichen und mentalen Möglichkeiten decken müssen. Die vielen Berichte im Internet sind ganz unterhaltsam zu lesen, aber zumeist nicht gut genug für die Detailplanung geeignet.

2003 hatte ich bis zur Veranstaltung nur ca. 7.000 Trainingskilometer in den Beinen, aber da ich viele Alltagsstrecken und auch im Winter sportlich fahre, sagt es vielleicht doch nicht so viel über meine Kondition aus. Eine ganze Reihe von Randonneuren haben weit über 10.000 Trainingskilometer gefahren, was sicherlich eine bessere Basis ist.

 

Mentale Stärke

Meine Frau brachte mich zum Start des 600 km Brevets und war unbefangene Betrachterin auf der Suche nach auffälligen Merkmalen von Randonneuren. Die äußere Erscheinung ist so wie bei Fahrern von RTFs: durchtrainiert und weniger Bauch als in unserer zunehmend körperlich und geistig vollschlanken Gesellschaft. Ansonsten waren keine Auffälligkeiten auszumachen.

Eine Episode auf dieser Tour mag aber die mentale Stärke als eine Besonderheit gut beschreiben. Nach zwei Stunden sprang der Kilometerzähler auf 60 km um, als mein zufälliger Nachbar ganz trocken bemerkte, was mich vor Lachen fast vom Rad schüttelte: „Toll, ein Zehntel haben wir schon!“ Plötzlich musste ich mein Lachen unterbrechen, um in seinem Gesicht zu ergründen, ob dieser Witz doch nur dem in Mode stehenden effektheischenden Zynismus zuzuschreiben war oder großer wahrer Humor ihn gebar. Sein nicht Anerkennung suchender zufriedener Gesichtsausdruck war eindeutig und machte mir sogar den Unterschied zum Optimisten klar. Das halbvolle Glas der Optimisten ist für Randonneure wohl schon kurz vor dem Überlaufen.

Zumindest ist für die eigene Erheiterung auf mein Gedächtnis Verlass. Immer wieder sehe oder höre ich etwas auf der Strecke, was mich an eine komische Situation oder einen Witz erinnert. Wo so viele Menschen angestrengt miteinander unterwegs sind und in Pausen erschöpft aufeinandertreffen, treibt die Komik köstliche Blüten. Mein Radlerauge ist wachsam und bietet so meinem Geist trotz eigener Wehwehchen immer wieder Belustigung. Allein wie wir an den Kontrollstellen gehen, erinnert doch an ‚running gags’. ‚So weit die Füße tragen’ ist hier aber weniger gefordert, als der ausdauernde runde Tritt.

 

Ausrüstung

Die Fahrräder müssen einzeln vorgeführt werden, wobei insbesondere das Licht inklusive Ersatzbirnen und die Sicherheitsweste überprüft werden. Zugelassen sind alle muskelkraftbetriebenen Vehikel: Liege-, Dreiräder, Tandems und Kombinationen, sowie antiquarische Exemplare, denen die Ehrenbezeichnung ‚Stahlroß’ aus der Gründerzeit der PBP zusteht. Ein Jungsporn tritt sogar mit einem großen  Tretroller an. Sehr zum Ärger einiger Langstreckenfahrer sind Lenkeranbauten verboten. Zu vermuten ist die Befürchtung der Organisatoren, dass Teilnehmer auf ihren Armauflagen leichter einschlafen könnten.

Die offiziellen Regeln sind strikt und werden auf dem gesamten Streckenverlauf von motorisierten Kontrolleuren überprüft. Eine Erfahrungsregel der Randonneure besagt: Je kürzer die Strecke, desto mehr Fehler kann sich der Fahrer erlauben und umgekehrt. Alle angebrachten Teile, auch die Mäntel und Schläuche am Rad habe ich mindestens 200 km getestet, so dass offenkundige Materialschäden weitgehend ausgeschlossen sind.

Es sollten nur Teile, Befestigungen und Kleidungsstücke benutzt werden, die sich bereits auf langen Strecken bewährt haben. An Bekleidung hatte ich extra für diesen Anlass das Trikot der deutschen Mannschaft erworben. Das Trikot ARA Allemagne in den Nationalfarben ist wirklich heiß, weil Flammen darauf lodern. Die Betreuung durch meine Frau erlaubte mir unterwegs den Luxus, nach dem Duschen in saubere Kleidung zu wechseln. Tags reichte Trikot und Hose in kurz, während es sich Nachts deutlich abkühlte und ein langes Trikot und Beinlinge darüber notwendig waren.

 

Gepäck:

Bei PBP ist alles zu sehen, was es Bewährtes auf dem Markt an Taschen und Gepäckträgern, bis zum Rucksack zu kaufen gibt. Erheiternd finde ich den Camel-Bag mit den passenden Leuten darunter. Meine Ausstattung besteht aus einer Klick-Fix Lenker- und einer Sattelstützentasche. Die Bügel der Taschen werden in gut funktionierenden Arretierungen befestigt. Auch wenn die vordere Tasche das Lenkverhalten etwas schwergängiger macht, ist es für die Versorgung des Fahrers unterwegs sehr bequem, weil man nicht unter vollgestopften Trikottaschen oder gar dem schweren Rucksack schwitzt. Für die vordere Tasche sind die  Campagnolo Brems- und Schaltgriffe gegenüber denen der Konkurrenz von Vorteil, weil auch die Schaltzüge unter dem Lenkerband verlaufen und Platz für eine Lenkertasche mit einer Kartenhülle ist. Bei Shimano stehen die Schaltzüge für eine Befestigung oder zumindest einem fummelfreien Zugriff im Wege.

 

Besonderheiten am Rennrad

Zur Orientierung hatte ich einen angeklippten Kompass am Lenker, den ich sogar einmal an einem unübersichtlich und schlecht ausgeschilderten Streckenteil benötigte. Er soll zumindest grobes Verfahren in die falsche Richtung oder sogar die Gegenrichtung bei wetter- oder wahrnehmungsbedingter Umnebelung verhindern.

Eigentlich hätte man auf dem Campingplatz in Paris auch die Zentrale von Schmidt vermuten können, denn fast alle Deutschen und viele Nordeuropäer fahren mit dem SON-Nabendynamo. So viele Exemplare werden auch Leute von Schmidt nicht in hochwertigen Rädern eingebaut an einem Platz gesehen haben. Ich sagte, es ward Licht und der Son-Nabendynamo, 2 Schmidt-Lampen mit 3 Watt Birnen an Alustreben unter der Lenkertasche befestigt, leuchteten wie eine kleine Flutlichtanlage. Die 2. Lampe ist in Reihe über einen Extra-Schalter zuschaltbar, so dass das System dann mit 12 Volt arbeitet. Es überrascht, dass das ansonsten rigide Reglement, „Code de la Route“, der Veranstalter für vorne Batterielicht erlaubt, denn die bei den Franzosen und Italienern verbreitete Art der Batterie-Beleuchtung ist wirklich nur ein Funzellicht. Die Dämmerung geht am 19.08.03 in Paris bis 5:31 Uhr morgens und dann wieder ab 22:17 Uhr abends; so dass für 7 Stunden und 14 Minuten ausreichend Licht erforderlich ist.

 

Verpflegung

Auch wenn ich Riegel und Squeezy zur Sicherheit dabei hatte, benötigte ich sie nicht und habe sie wegen meiner Geschmacksnerven nicht angerührt. Dafür wählte ich mir an fast allen Kontrollstellen je nach Hunger ein Gericht aus dem Angebot aus. Die liebevoll von meiner Frau geschmierten guten Brotscheiben mit Käse und Wurst in Häppchen geschnitten, konnte ich gut unterwegs essen. Für den kurzfristigen Kraftbedarf und ganz schnelle Beine hatte ich in die Plastikverpackung ‚flotte Biene’ von Langnese unseren eigenen Honig eingefüllt. Natürlich bin ich von den Inhaltsstoffen überzeugt und weiß wenigstens auch, was alles nicht drin ist. Den flüssigen Honig kann man sich fast wie ansonsten Getränke aus der Trinkflasche während der Fahrt einflössen, ohne sich zu  beschmieren. Nicht nur zur Kaffeezeit habe ich mir vorher in Stücke geteilte Kuchen gegönnt. Aus Deutschland mitgebrachte Nussecken und Mandelhörnchen sind eine richtige Abwechslung. Eine Dose Bonbons leerte ich mit meinen Begleitern bis ins Ziel.

Zwei mal ¾ l Flaschen habe ich an Getränken in den Haltern. Gefüllt sind sie mit Leitungswasser und mit Magnesiumtabletten oder Apfelsaftkonzentrat geschmacklich angereichert. Nur Nachts habe ich mir, falls Kaffee nicht verfügbar war, Cola zugemutet, um möglicher Müdigkeit vorzubeugen. Für die lange Strecke bis zur 1. Versorgungsstelle war noch eine zusätzliche ½ l Flasche in der Lenkertasche, was als Getränkemenge ausreichend war.

 

Unterkunft in Paris:

Wir wählten den 2 km vom Start/Ziel entfernt liegenden Campingplatz für die Unterkunft. Im Gegensatz zur Eigenwerbung ist er eher von bescheidener Qualität und wird belastet von einem zwar freundlichen aber überforderten Personal. Für unsere Absichten war er jedoch ein idealer Treffpunkt und eine brodelnde Informationsbörse. Je nach Reiseform und Geldbeutel richtet man sich vom einfachen Zelt bis zum Superwohnmobil ein. Beherrschendes Merkmal sind die technisch hochwertigen Fahrräder und eine langsam zunehmende Spannung im größten bisher erlebten ‚Fahrerlager’.

Da ich bei den Brevets schon mit vielen Leuten zusammen gefahren bin, kommt die Ankunft auch einem lang ersehnten Wiedersehen gleich. So traf ich an der Rezeption den ältesten deutschen Teilnehmer, Friedhelm, und etwas später Olaf aus Leipzig, der mit den letzten Verbesserungen an seinem Rad beschäftigt war.

 

Wetter

Die ganze Nacht zuvor regnete es, so dass einige in Mulden schlecht aufgebaute Zelte weniger als Schutz, denn als Regenwassersammelanlage wirkten und volliefen. Aber während der Veranstaltung war das Wetter insgesamt günstig, denn wir hatten keinen Regen und es ist nach Aufklaren meist sonnig, am 1. Tag leichter Nordwind, am 2. Tag eher im Tagesverlauf zunehmender Westwind. Die Temperaturen lagen Tags bis 25 Grad, dagegen wurde es mit 7 Grad Nachts auch wegen der Feuchtigkeit kühl.

Nach schweißtreibenden Anstiegen war es in der kühlen Nacht nicht angenehm, auf den längeren Abfahrten auszukühlen. Der Sommer 2003 war günstig, um auch die freie Haut auf die Anforderungen dieses Großereignisses vorzubereiten. Sie sollte vorgebräunt sein, damit man nicht noch mit Sonnenöl das Atmen der Haut erschwert.

 

Kommunikation

An jeder Kontrollstelle wird die Magnetkarte durch das Lesegerät gezogen und die Werte nach einer halben Stunde ins Internet gestellt. Die Teilnehmer kann dort jeder verfolgen; es muss lediglich die Teilnehmernummer oder der Name des Teilnehmers eingegeben werden. Unser Freund Jürgen meldete von zu Hause meine Durchfahrten an meine Frau weiter, da der SMS – Service des Veranstalters nicht für ausländische Mobiltelefone funktionierte. Wer seinen Liebsten Grüße senden wollte, konnte an den Kontrollstellen auch e-mails versenden.

 

Ein Auszug aus der SMS-Kommunikation:

- Brigitte an Jürgen (in D): Ulli hat Knieschmerzen und war beim Arzt in Loudeac. Arzt meint, dass er das damit nicht schafft. Hat ein Medikament gekriegt und eine Massage. 23 Uhr Carhaix? Brigitte

- Brigitte an Anja (in F an verschiedenen Orten): Danke. Ich warte erst mal ab, ob Ulli sich wieder meldet. Ist Bernd schon wieder unterwegs? Ich steh noch an der Brücke u. gucke, was hier so vorbeifährt. Brigitte

- Jürgen: 19.08 21.54: Das wäre ja schade. Wie warm oder kalt ist es denn? Ich schau nachher ins Netz und sag Bescheid Jürgen

- Brigitte an Jürgen: Wetter war ja in der Nacht bevor es losging totaler Regen. Aber seitdem langsam besser. Jetzt in Tinteniac 17 Grad u. fast klar. Fühlt sich für mich aber kühl an. B.

- Jürgen 20.08 9.35: Hallo Brigitte Ulli hat um 9.08 Brest passiert, Gruß Jürgen

- Brigitte an Jürgen: Danke Jürgen. Nächste ist wahrscheinlich gegen 14 Uhr Carhaix. Ulli geht jedes Mal zum Arzt.

 

Vorprogramm

Am Sonntag fand die technische Kontrolle des Fahrrades statt, die sich auf funktionstüchtige Beleuchtung und das Vorzeigen von Reflektionsbändern beschränkt. Zu den Startunterlagen gehören ein Streckenplan, der für uns zu ‚France á la carte’ wurde, mit den Orten und Entfernungen, ein Kontrollbuch für den Stempel und eine Magnetkarte für die PC-Erfassung. Außerdem holte ich auch noch das vom Veranstalter für diesen Zweck produzierte Sondertrikot ab, das natürlich auch vom Eiffelturm dominiert wird.

Für Sonntag war ein Treffen aller deutschen Fahrer. Wir versammelten uns in  dem deutschfarbigen rot-flammigen ‚National’ Trikot auf dem Rondell vor dem Stadion zum Foto-Termin.

Am Montag Morgen fand ein Prolog über 30 km statt, den meine Frau Brigitte mit ihrem Birdy mitfuhr.

Sie hatte sich liebenswürdigerweise eine Woche Urlaub genommen und mich nicht nur zum Start begleitet, sondern auch an 2 Kontrollstellen betreut und dann wieder im Ziel empfangen. Sie muss mit dem Begleitfahrzeug eine Parallelstrecke fahren. Insoweit beschränkt sich die Unterstützung zwar auf die 2 Kontrollstellen, aber auch das ist ein Luxus: gutes gewohntes Essen, nach dem Duschen neue Trikots anziehen und sich natürlich auch angeregt unterhalten zu können.

 

Depart - France á la carte

 

St. Quentin-en-Yvelines, Start 0,00 km

Das großartige Fahrradspektakel startet und endet in St. Quentin in der Nähe von Paris, 6 km südlich von Versailles. SQY ist eine auf dem Reißbrett entworfene futuristische Retortenstadt aus gewaltiger Glas-Beton Architektur, die viele postmoderne Architekten beglückt haben muss. Der Kontrast zum naturnahen Treiben auf dem Campingplatz und zu den mittelalterlichen Dörfern auf der Strecke gibt ihr sogar einen gewissen Reiz.

Brigitte und Anja bringen Bernd, Martin und mich zum Start, wo sich eine riesige Menge an Fahrern und Rädern versammelt und durch ein Nadelöhr ins Stadion drängt. Wir wollen den Start der 20.00 Uhr Gruppe miterleben. Der Anblick der riesigen Masse an farbenfroh gekleideten Radfahrern, die aus dem Stadion herausquillt, ist schon phantastisch. Der Mythos und die Euphorie dieses Rennens beseelt die Teilnehmer schon bei der Vorbereitung und die Spannung kulminiert zum Starttermin hin wie eine große Welle.

Ich muss feststellen, dass die gewechselten doppelseitigen Klickpedalen nicht gut zum Klickmechanismus der Schuhe passen. Netterweise holt Brigitte Ersatz vom Campingplatz. Ein langwieriges Schieben und Gedränge durch den Tunnel folgt, um in das Stadion zu gelangen und in der Halle den ersten Kontrollstempel zu holen.

Eine logistisch mit einfachen technischen Mitteln kaum schneller lösbare Aufgabe ist der Kontrollvorgang für einige Tausend Leute. Wir stehen in der Schlange, bekommen unseren ersten Stempel und warten dann im Stadion auf die einbrechende Nacht. Die Spannung steigt in dem Maße, wie das Abendlicht schwindet. Die Anspannung lässt sich auch an den langen Reihen vor den Toilettenhäuschen ablesen. Wer allerdings hier wild pinkelt, dem droht die erste Zeitstrafe. Bernd will möglichst weit hinten fahren, um dann Leute zum Überholen vor uns zu haben. Ich bevorzuge lieber etwas weiter vorne zu starten, so dass ich im Falle einer Panne noch Anschluss an eine Gruppe finden könnte.

Nach langem Warten verlassen wir am Ende der 2. Gruppe schließlich um 22.15 Uhr das volle Stadion. Alles drängt zum Ausgang. Wir passieren eine weitere Kontrolle und nehmen auf der Straße weit hinten Aufstellung. Der Startschuss ist für uns nicht das Zeichen, sondern das auf uns zukommende metallische Geräusch von hundertfachem Klicken der Pedalen. Endlich geht es los. Wir haben noch eine Stelle im Kreisel mit unseren Begleiterinnen für ein flüchtiges Abklatschen ausgemacht.

Ich erlebe das klassische Dilemma von Langstrecken. Wir fahren vom Start weg eigentlich viel zu schnell los und gleichzeitig trifft das hohe Tempo meine Gemütsverfassung. Eine neutralisierte Strecke folgen wir im Peloton einem Fahrzeug, bis wir die unübersichtlichen aber hell ausgeleuchteten Abzweige der Pariser Vorstadt hinter uns lassen. Endlich kann ich die aufgestaute Anspannung auf dem Rad abarbeiten und mich frei fahren. Es geht raus in die Ruhe der Nacht mit seiner visuellen Beschränkung und damit einhergehenden Schärfung der anderen Sinne: Freiläufe klickern, die Reifen summen, mal erschallt der Ruf eines Namens oder ein Hinweis auf eine Gefahr.

Bernd muss im früheren Leben Brite gewesen sein, denn er bevorzugt die linke Spur, um sie mit sichtlicher Freude als Überholspur zu nutzen. Martin und ich folgen im berühmten Gänsemarsch.

Als die Besiedlung dünner und das Fremdlicht weniger wird, können wir an erhöhten Punkten eine lange sich windende Lichterkette von roten aufgereihten Rücklichtern sehen. Anfänglich sind es eher noch Pulks, später strecken sie sich zu Schlangen. Je nach Topografie lässt sich an der Häufung schon von weitem erkennen, was auf uns zukommt. Ganze Galaxien an wunderschönen sich verändernden roten Sternenbildern durchfahren wir. Hier deutet allerdings ein roter Lichterhaufen nicht auf die Milchstraße, sondern auf eine Steigung hin. Je stärker die Steigung, desto heller das Licht. Von den Anhöhen schießen wir in die Ebenen hinab. Aufgereiht in der roten Lichterkette bin ich auch nur eine ganz kleine Leuchte. Im Dunkel der Nacht prägen sich die Gerüche stärker ins Bewusstsein:  In den Orten rieche ich einen Misthaufen, aber auch die nächste Boulangerie. In der Morgendämmerung riecht man die atmende Erde oder fliegt durch eine Wolke von Tannenduft.

Nur einmal gerate ich in eine unfallträchtige Situation, weil ein Betreuungsfahrzeug am Wegesrand hält, um einen auf der anderen Seite im Graben liegenden Teilnehmer zu betreuen. Ohne Not bremsen einige Fahrer vor uns drastisch ab, so dass wir nur knapp einer Karambolage und einem möglichen Sturz entgehen. Einige Minuten danach kommt mir der alte Heinz Erhardt in den Sinn. Diesen Kalauer widme ich natürlich Martin:

„Meine besten Witze hab’ ich erzählt,

das Publikum lächelte nur leicht gequält.
doch Heiterkeit ohne Maß und Ziel
erregte ich, als ich vom Fahrrad fiel.

... und noch nicht einmal Spaß hätten wir in dieser Nacht jemandem damit bereitet.

Martin sagt irgendwann, dass unser Tempo ihm an Steigungen zu schnell sei und tatsächlich haben wir ihn wenig später verloren. Leider wurde er von einem wegen einer abfallenden Batterielampe unprofessionell anhaltenden Mitfahrer durch dessen Gefahrrad zu Fall gebracht, wie er später berichtete.

 

Nogent le-Roi, zurückgelegte Strecke 56,5 km, Hinweg

Auf dem Hinweg ist hier kein Halt, so dass wir ungebremst bei dem lauen Lüftchen weiter mit hohem Tempo und in unterschiedlichen Gruppen vorankommen und an vielen anderen vorbei ziehen. Zwischen den Orten ist es jetzt stockdunkel, so dass wir Fahrer mit SON-Nabendynamo zu Königen der Finsternis werden, hinter denen sich gerne viele ‚Unterbelichtete’ verstecken.

Immer noch ziehen wir an den sich bildenden Gruppen links vor allem an Steigungen zügig vorbei. Der Zusammenhalt einer Kleingruppe in einer großen Menge von vielen Hundert anderen Fahrern ist zumindest auf der Überholspur nicht leicht zu erhalten. Immer wieder schieben sich Leute dazwischen, um dann teilweise ohne Hinweis unmotiviert abreißen zu lassen. Zumeist folge ich Bernd, wir werden in Gruppen aufgenommen, fahren mit und irgendwann vorne wieder raus. Wie eine extra lange Prozession konzentriert sich alles auf die Ankunft in Paris und doch habe ich gegenwärtig nichts anderes im Kopf als den Moment, die Strecke, den Belag, den Vorder- und Seitenmann. Gerade Nachts erleichtert sogar der ‚Tunnelblick’ diese Konzentration. Wohlweislich haben die Organisatoren an vorfahrtsberechtigten Kreuzungen unermüdliche Helfer bereit gestellt, die zumeist den motorisierten Verkehr anhalten, wenn wir wie eine Herde wilder Büffel heranpreschen. Es beruhigt mich, wenn allein ein Blick auf den Sternenhimmel die Fahrtrichtung bestätigt, denn die roten Lichtketten zerreißen immer häufiger.

 

Mortagne, zurückgelegte Strecke 141 km, Hinweg

Günstig ist das auffällige deutsche Trikot unterwegs, weil man schon von hinten auf einen möglichen Bekannten aufmerksam wird. So fahren wir dann auch eine Zeit mit Uwe aus Lauenau (eine Radstunde von meinem Heimatort Wunstorf entfernt) im Stile des Mannschaftszeitfahrens abwechselnd vorne einen zügigen Schnitt. Anfänglich setzte ich gedanklich die zurückgelegte Strecke respektvoll immer anteilig zur Gesamtstrecke ins Verhältnis. Später motiviert es mich stark, wenn ich schon einen hohen Anteil hinter mir habe.

Richtig gefährlich sind hier eigentlich nur die innerörtlichen straßenbaulichen Verkehrsberuhigungsmaßnahmen wie Inseln, versetzte Bordsteinkanten und Aufpflasterungen, die mit ihren Pavés an die Folterstrecken des Klassikers Paris-Roubaix erinnern.

Wir fahren auf Benno auf, den ich schon in Hamburg bei einem Brevet als starken Fahrer erlebt habe. Er erzählt, dass er sich im Graben wiedergefunden hatte, als wohl der Sekundenschlaf ihn übermannte. Wenn Frauen vor uns auftauchen, fällt mir immer Gerd aus München ein, der bei attraktiven rückseitigen Anblicken seine Empfindung so beschrieb:

            „Ich fühle mich dann immer wie eine Schildkröte,

dem zum Antrieb ein leckeres Salatblatt vorgehalten wird.“

 

Villaines la Juhel, zurückgelegte Strecke 221 km, Hinweg

Nur gute Beine bringen sehr viel Kraft auf die Pedalen. Meine Wiegetrittkondition scheint unerschöpflich, so dass ich gerne die vielen kleinen Hügel vorn fahre.

Die Anteilnahme der Franzosen gerade in den kleinen Dörfern ist einfach fantastisch: Sie haben Stände aufgebaut und versorgen anhaltende Radler mit Wasser, Kaffee, Gebäck und Früchten,  häufig sogar kostenlos. Eine kleine motivierende Unterhaltung vermittelt Freundschaft unter Fremden aber Seelenverwandten. ‚Bon Courage’ ist die häufigste und sicher treffendste An­feuerung vom Wegesrand, die wirklich hilft und motiviert. Kinder machen sich ihr eigenes Vergnügen und halten ihre Händchen zum Abklatschen in die Fahrbahn.

Die Faszination des Langstreckenfahrens ist für Freizeitradler kaum zu erklären. Mit der Anmeldung lässt man sich, mitten in Europa, auf ein richtiges Abenteuer ein. Wer sich an und mit den begeisterten und anspornenden Menschen am Wegesrad freuen kann, für den wird es zu einer Reise mit einer ungeheuren Erlebnisdichte.

 

Fougères, zurückgelegte Strecke 300 km, Hinweg

In der Kontrollstelle von Fougères verteilen Schülerinnen fertig frankierte Postkarten, die von den Fahrern an die Lieben geschrieben und dann einfach zurückgelassen werden können. Eine ganz originelle Werbung der Stadt Fougères. Jeder gedenkt seiner Liebsten und fügt dem vorgedruckten Text noch einige Zeilen zu!

Um eine völlig einseitige Muskelbeanspruchung zu vermeiden, wechsele ich die Körperhaltung auf dem Rad ab, bei Anstiegen gehe ich in den Wiegetritt und bei Abfahrten nehme ich die Unterlenkerposition ein. Mein Arzt hatte mir auch einige Dehnungsübungen gezeigt, die gegen die einseitige Belastung des Radfahrens hilfreich sind. Mit meiner Frau hatte ich mir dann ein kleines Gymnastikprogramm auf dem Rad ausgedacht, dass ich möglichst alle 2 Stunden bei einem ruhigeren Streckenabschnitt auch absolviere. Eine Hand löse ich dabei vom Lenker und ziehe sie vorne über die gegenüberliegende Schulter, dann nehme ich sie hoch weit hinter den Kopf und dann von unten hinter den Rücken, wobei ich immer ein wenig den Oberkörper mit drehe.

Unsinnigerweise versuchen wir eine schnellere Gruppe einzuholen und lassen dabei viele Körner. Auch wenn das nicht der ökonomisch sinnvolle Einsatz von Kraft bedeutet, gibt der Jagdtrieb einen ganz eigenen Ansporn. Kopf der Gruppe ist sicherlich Bernd, einmal wegen seiner Erfahrung aus 1999 und zum anderen wegen seines Anspruchs, der ihm nicht allzu lange eine hintere Position erlaubt.

Die ersten 366 km bis Tinteniac, Ankunft 12.30 Uhr, fahre ich mit Bernd und Benno in einem gefahrenen Schnitt von fast 28 km/h und fühle mich dabei wie ein junger Gott in Frankreich.

 

Tinténiac, zurückgelegte Strecke 366 km, Hinweg

Kurz vor meiner geplanten ersten längeren Pause kommt im linken Knie ein Schmerz auf, wie ich ihn bisher noch nicht kenne. Meine Frau will sich auf dem in 1 km Entfernung vom Kontrollpunkt liegenden Campingplatz einrichten. Von der Kontrolle in Fougères aus rufe ich sie an, weil wir 3 Stunden schneller unterwegs als unser schnellster Zeitplan sind. Zu diesem Zeitpunkt ist sie mit dem Gespann von Paris kommend noch 20 km hinter mir, so dass sie sich sehr beeilen muss, um die Verpflegung am 60 km weiter entfernten Treffpunkt vorzubereiten. Aber alles ist bei der Ankunft für mich gerichtet. Nach dem Duschen esse ich ein mehrgängiges Menü, natürlich mit der Hauptspeise Nudeln und lege mich für ein Stündchen in den Wohnwagen schlafen. Mit frischer Kleidung gehe ich gestärkt wieder ins Rennen, obwohl mein Knie sich kaum gebessert hat. Bis zur nächsten Kontrollstelle fahre ich etwas gedrosselt, aber der Schmerz nimmt trotzdem deutlich zu.

Wie auch auf anderen Streckenabschnitten komme ich durch Orte, in denen die Zeit angehalten zu sein scheint und die außer vom Straßenbelag her ihre äußere Erscheinung nicht wesentlich gegenüber der ersten Veranstaltung im Jahre 1891 verändert haben dürften. Erfreut haben mich die vielen mit Transparenten und Ständen für den Anlass hergerichteten Orte und die ‚Villages fleuries’ auf der Strecke, die mit ihrer liebevoll gepflegten Blumenpracht farbliche Tupfer an den Wegesrand setzen.

Mit einer originellen Idee hat Bernd uns auf dem Asphalt überrascht. In den Urlaubstagen zuvor hatte er viele Namen der Hamburger Brevet-Fahrer in Tour de France Manier auf der Straße verewigt. Auch in dieser Hinsicht sind wir Fahrer hier nicht ganz spurlos geblieben, denn Spuren der Beschriftungsaktion von 1999 werden von einigen auch noch erkannt.

 

Loudéac, zurückgelegte Strecke 445 km, Hinweg

Als ich dort ankomme und absteige, kann ich nur noch mit dem versteiften Bein humpeln. In der Rote Kreuz Station untersucht mich ein Arzt und diagnostiziert eine extreme Muskelentzündung am Knie: „Bis Paris, ... nein bis Brest werden Sie nicht mehr kommen!“ Er diagnostiziert, dass ein außenliegender Muskel wahrscheinlich vom vielen Fahren im Spinningstil extrem überreizt ist. Die schlimmste Ahnung scheint sich beweisen zu wollen. Meine Erwiderung, dass ich es trotzdem mindestens bis zur Hälfte, also nach  Brest versuchen will, nimmt er mit einer Mimik zur Kenntnis, als wollte er sagen: „Du wirst schon sehen ...“.

Paris rückt in unerreichbare Ferne. Ich merke, dass ich in kleinen Schritten denken und mich an veränderten Zielen orientieren muss. Wenigstens bis nach Brest will ich jetzt doch noch, denn damit hätte ich wenigstens die Hälfte, also PB abgefahren, ... eine Massage und eine leichte Schmerztablette helfen. Mit einer dreistelligen Trittfrequenz wie eine Nähmaschine kurbelnd geht es bedächtiger weiter zum nächsten Etappenziel.

Die Diagnose stimmt mich traurig. Der Vorbereitungsaufwand geht mir durch den Kopf, der liebevolle und zeitraubende Einsatz meiner Frau, .... und einen nächsten Versuch hätte ich erst in 4 Jahren. Meine Frau rufe ich nicht an, weil ich sie mit der schlechten Nachricht nicht belasten will, denn man lebt ja gerade auch auf so einer Tour von der Hoffnung.

Nach einem kleinen Imbiss breche ich in Richtung Carhaix auf und fahre in den Abend hinein. Ich bedauere, nicht mehr den sitzenden Fahrstil mit dem Wiegetritt abwechseln zu dürfen.

Unterwegs ist eine Geheimkontrolle in St. Martin de Pres, einem sich für das Ereignis mit Festzelt herausgeputzten Ort. Freundliche Ehrenamtliche und Anwohner bemühen sich wie sportliche Betreuer um mich, fragen nach der Verfassung und weisen mich ein. Sehe ich schon so erschöpft aus? Aber die Aufmerksamkeit wendet sich bald ebenso aufmerksam und zuvorkommend den nächsten Ankommenden zu.

Meine Verdauung hat im Gegensatz zu einer Reihe von anderen Rondonneuren gut funktioniert. Mit unserem Oldi Friedhelm fahre ich nur wenige Kilometer zusammen, weil er immer mal wieder in die Büsche muss, um braune Duftmarken zu setzen. Er leidet unter Durchfall und fühlt sich geschwächt. Er schert aus und rät mir wegen ungewisser Dauer seines doch eher bescheidenen ‚großen Geschäfts’ weiter zu fahren. Ihm sei der Hosenklammerwitz gewidmet:

            Friedhelm: „Ich habe Durchfall!“

Arzt: „Wann haben Sie das denn gemerkt?“

Friedhelm: „Na, als ich die Fahrradklammern abgemacht habe...“

Vor dem nächsten Etappenziel nehmen die Schmerzen wieder stark zu und das Gehen scheint mir dort nur noch wie mit einer Prothese zu funktionieren. Immerhin fahre ich bis hier einen persönlichen 24 Stunden Rekord mit 525 km.

 

Carhaix Plouguer, zurückgelegte Strecke 522 km, Hinweg

Von Carhaix berichte ich Brigitte von der Diagnose und sage ihr, dass ich es trotzdem weiter versuchen will. Wieder suche ich die guten Samariter auf, werde behandelt und glaube mir durch ein wenig Schlaf etwas Heilung verschaffen zu können. In der Sporthalle miete ich mir ein Feldbett für 3 €, und lege mich zu Hundert anderen Schnarchern. Ich bedauere, kein Diktiergerät mitgenommen zu haben, um den vielstimmigen Chor als Randonneurs Nachtmusik aufzunehmen. Eine Extradecke unter dem maladen Knie verschafft Erleichterung, bis ich nach ca. 1 Stunde von einem stechenden Schmerz aufwache. Die Nachbarn heben die Köpfe und sehen mich befremdet an. Ich vermute, dass ich wohl noch im Schlaf einen zum Gefühl gehörigen Laut gemacht und sie geweckt haben muss. Das Bein fühlt sich wie gelähmt an, das Knie kann ich gar nicht aus der Beinmuskulatur heraus bewegen. Plötzlich merke ich, dass mein Kreislauf abfällt und ich zu frieren anfange. Keine Position auf der Liege ist erträglich und der Schweiß auf der Stirn ist kein gutes Zeichen. Weniger die Worte als vielmehr das Gesicht des Arztes kommen mir in Erinnerung, und ich muss einsehen, dass PBP 2003 für mich wohl zu Ende ist. Aber wenigstens den Kampf gegen den Schmerz versucht zu haben, stabilisiert zumindest meinen Gemütszustand. Bei der Selbstmassage wird mir klar, dass man unangenehmere Ursachen für Knieschmerzen haben kann:

„Aua“ ruft ein Radfahrer als er mit seiner Truppe losfährt.

Der mitfühlende Sportkollege fragt: „Was ist denn mit Dir?“

„Ich war heute Nachmittag zwei Stunden beim Chef und jetzt schmerzen die Knie.“

Da es in der Nacht gegen 2 Uhr ist, will ich meine liebevolle Betreuerin an dem zurückgebliebenen Campingplatz nicht wecken, um mich abholen zu lassen. Immerhin liegen inzwischen 160 km zwischen uns. Ich setze mich in die Decke eingemummelt und massiere mein Knie fast eine Stunde lang ... und tatsächlich kann ich das Bein dann mit den Händen von der Liege heben und aufstehen. Im Schlafsaal ist jetzt auch fast überall der Fußboden belegt und Athleten ohne Schweißdrüsen gibt es nicht.

Auf mein Rad stützend hinke ich ins Restaurant, um etwas Warmes zu essen und dann den Morgen für den Anruf abzuwarten. Hier sieht es wie in einem Flüchtlingslager aus: viele müde Krieger liegen auf dem Boden dahingestreckt, andere lehnen ihren Kopf auf die Tischplatte, den nicht abgegessenen Teller zur Seite geschoben zwischen dem Besteck, als sollte er der letzte Gang des Menüs werden.

Eine heiße Suppe bringt meinen sich langsam erholenden Kreislauf wieder in Gang. Ich kann den Fuß sogar wieder heranziehen, und ... Hoffnung keimt auf. Um kurz nach 4 verlasse ich das Lokal und steige auf das Rad, klicke mit dem gesunden Bein ein, drehe die andere Pedale herunter, setze das malade Bein gestreckt darauf und drücke es mit dem gesunden in die Pedalierbewegung. Fast schmerzfrei folgt es der erzwungenen Bewegung des Anlassers. Mit dieser einseitigen Antriebsart bin ich einige Minuten beschäftigt, bis das Gefühl mangelnder Muskelkontrolle langsam verschwindet. Das Bein kann wieder mittreten und ich schließe mich sogar einem eher mäßig daherfahrendem Grupetto an.

Bisher habe ich noch nicht wirklich Zeit verloren, die eine rechtzeitige Zielankunft verhindern sollte. Das herausgefahrene Zeitpolster der anfänglich zügigen Fahrt war jetzt sehr beruhigend.

Irgendwie stecke ich in einem Wahrnehmungs- und Selbstbeobachtungsdilemma. Eigentlich sollte man sich möglichst frühzeitig jedes aufkeimende Wehwehchen bewusst machen, um Abhilfe zu schaffen, aber andererseits droht die Gefahr des Hypochondrierens.

Gleichmäßig und mit wenig Kraft pedalierend rollt es immer besser. Der Schmerz ist eher dumpf, gelegentlich ist das Knie sogar schmerzfrei.

Auch wenn es im strengen Sinne keine Etappen gibt, so sind doch diese Streckenteile auf dem Hin- und Rückweg mit dem Col Roc Trevezel als Königsetappen zu bezeichnen. Die einzige richtige Anhöhe wird von vielen gefürchtet, nicht weil sie mit den knapp 400 Höhenmetern und einer flachen Steigung eigentlich schwierig zu fahren ist, aber nach 570 km und auf dem Rückweg nach 650 km in den Beinen sieht das bei starkem Wind anders aus. Mir geht es immer besser, das erste Tageslicht zeichnet sich ab, der Gipfel mit dem Fernmeldeturm liegt in einer dünnen Wolkendecke. Ein Blick auf den Tacho als Motivation für das Fortkommen gedacht, irritiert mich doch sehr. Er war scheinbar genau in Carhaix stehen geblieben, und hatte entweder die 24 Stundengrenze nicht bewältigt oder die Batterien haben die Pause nicht vertragen. Er forderte mich blinkend auf, den alten Kilometerstand neu einzugeben. Besonders ärgerlich ist, dass er auch die Uhrzeit vergessen hat. Einerseits fühle ich mich ohne die Messwerte irgendwie ein wenig orientierungslos in Raum und Zeit, anderseits habe ich das Gefühl zeitlosen Dahingleitens. 

Ein Hahn kräht pünktlich mit der ersten Morgendämmerung und mir fällt ein Witz dazu ein.

Ein tragischer Unfall mit dem Symboltier der Franzosen überschattet den bisherigen

Verlauf:

Als Ulli zu schnell mit dem Rennrad durch ein kleines verschlafenes Örtchen fährt,

schafft es der Hahn eines Bauernhofes nicht mehr rechtzeitig über die Straße. Ulli steigt

ab und hebt die unter die Räder gekommene Kreatur auf, trägt sie auf den Hof und erklärt der Bäuerin: „Ich ersetze Ihnen den Hahn vollständig !“

Sie grinst und sagt mit dem Arm den Weg weisend: „Dahinten ist der Hühnerstall!“

... und solche Wiedergutmachung kostet einfach wertvolle Zeit!

Benno treffe ich wieder und fahre mit ihm in einer kleinen Gruppe weiter. Es stört mich eigentlich vor allem, dass ich den schneller vorbeifahrenden Gruppen nicht folgen darf, obwohl ich in mir genug Kraft verspüre. Auf der Abfahrt sehen wir Bernd schon wieder von Brest zurück bergan kommend. Er dürfte hier einen Vorsprung von 4 Stunden haben.

Wir fahren von Süden auf  Brest zu und haben von einer letzten Anhöhe eine wunderschöne Aussicht auf die Stadt und den Atlantik. Ein erhabenes Gefühl ergreift mich bei dem Gedanken, dass ab jetzt mit dem Wendepunkt auch die geographische Entfernung zum Ziel abnehmen wird. Es geht über die Brücke und dann noch 1 km recht steil zur Kontrollstelle hinauf. Die Hinfahrt nach Brest habe ich nun doch noch erreicht, obwohl ich mir das 5 Stunden zuvor schon schwer habe vorstellen können.

 

Brest, zurückgelegte Strecke 613km und Wendepunkt

Wieder werde ich am Knie massiert und treffe Martin, der eine starke Sehnenreizung spürt und auch mental angeschlagen zu sein scheint. Wir nehmen ein kleines Frühstück und da wir für  Croissants zu spät sind, bieten sich vielfältige andere Speisen zu moderaten Preisen zur Auswahl. Beim Frühstück in einer anwachsenden deutschen Teilnehmerrunde in der sonnendurchfluteten Halle setzt sich ein Journalist des ‚TOUR Magazins’ an unseren Tisch. Der junge Mann ist sehr nett, scheint aber besonderes Interesse an den Leidens- und Mäkelgeschichten der Teilnehmer zu haben. Diese für Deutsche typische Jammerei hatte ich zuvor bei den Randonneuren noch nicht erlebt. So wie es in England Konsens ist, mit dem Wetter das Gespräch einzuleiten, so scheint der Kommentar meines Vaters immer besser das deutsche Wesen zu treffen: „Lerne klagen ohne zu leiden“. Wer so eine Unterhaltung anfängt, will wohl damit sein kritisches Bewusstsein bekunden. Dass viele meiner Sportskameraden nicht die Landessprache sprechen, hindert sie nicht daran, in deutscher Vollpensionsmentalität ungeniert auch noch für das geringe Startgeld von weniger als 100 Euro kostenlose Beköstigung auf der ganzen Tour einzufordern und die Qualität der Organisation zu bemängeln. Zum Glück versteht uns keiner, denn die Vorwürfe sind allein beim Anblick der vielen ansprechbereiten ehrenamtlichen Helfer um uns herum zumindest komisch oder doch einfach peinlich. Wer sich für den Nabel der großen Welt hält und die deutsche Elle der Befindlichkeiten als einzigen Maßstab anlegt, der hält sich überall für kritikberechtigt. Die aus einer Zeigefinger-Kommunikation eingebrockte Suppe wollen sie dann nicht klaglos auslöffeln. Wir Deutschen arbeiten daran, was vor einigen Monaten eine Pressemeldung verkündete: Wir sind die unbeliebtesten Hotelgäste im Nationenwettbewerb. (Zu meiner Überraschung ist der Bericht in der 10/03 TOUR-Ausgabe dann doch so positiv ausgefallen - wie ich die Veranstaltung auch erlebt habe. Hiermit spreche ich den Journalisten ein Kompliment aus!) Während für die Alt 68er die einzig wahre Ideologie als Kriterium zur Weltbeurteilung ausreicht und deshalb nicht passende Fakten ignoriert werden können, scheinen die Gutmenschen als Bauchentscheider noch weniger Kenntnisse von Land und Sprache dafür zu benötigen. Manche absurde Situationen ließen mich in Deutschland eine Kabaretteinlage vermuten, in einer dem deutschen Wesen fremden Umgebung fühle ich mich dagegen doch eher als Don Quichotte. Schon mein Nachname weist auf die germanische Bezeichnung von Lanze hin, mit der auch ich hier altmodische Ideale verteidige.

Die engagierten französischen Radsportfreunde, in gelbe T-Shirts gekleidet, freuen sich über eine Unterhaltung und versuchen uns aufzuheitern. Auch ein fast 80 jähriger witziger Alter, der mir den Kaffee in den Becher tattert, ist auf einen Plausch aus. Er selbst war PBP acht Mal gefahren und jedes Mal angekommen. Zum Schluss macht er sich erst geistreich über meinen Hinkegang lustig, um dann allerdings zu ergänzen, dass mein schlechtes Aussehen für den Rückweg allemal noch reichen würde. Allein am Bufet bemüht sich mehr als ein halbes Dutzend liebevoll um unser Wohlergehen.

Ich will nur eine kurze Pause machen, da ich glaube, einen Zusammenhang von Ausruhdauer und zunehmendem Knieschmerz zu erkennen. Martin biete ich an, ihn zu ziehen, um als eine Art Selbstkontrolle nicht zu stark das Knie zu belasten, womit uns beiden gedient ist. Er will zwar mitkommen, aber bis er sein Essen eingekauft, seinen Toilettengang und andere wichtige Dinge erledigt hat, dauert es unsere Zeit. Dann muss er seine Firma mit Bild und Kurzbericht versorgen, damit es auf der Homepage eingestellt wird. Meine Bedenken bezüglich einer längeren Pause machen mich immer ungeduldiger, bis er dann irgendwie alles neben dem Essen erledigt hat. Am Radständer bemüht sich ein Fahrer fluchend, den Mantel von seinem Hinterrad herunterzubekommen. Da fällt mir die Geschichte von dem kleinen Jungen ein:

„Mama, darf ich hinausgehen und zuhören, wenn Papa den Reifen flickt?“

Beim Losfahren bemerke ich tatsächlich wieder eine leichte Versteifung des Beines. Aber mit meinem rechten Bein als Anlasser geht die ‚Treuil à tambeur’ (Tretmühle) bald wieder rund.

Zwischendurch nehmen die Schmerzen zu, so dass ich leicht mit dem Oberkörper nachhelfend einseitig trete und ein mich auffahrender Engländer nach meinem Befinden fragt. Normalerweise belastet man sich in der Szene nicht mit seinen Zipperlein, außer man braucht wirklich Hilfe. Wegen der konkreten Frage erzähle ich ihm von der Diagnose, worauf er mir die für Randonneure richtige Therapie zuspricht: „Just ignore it!“ Dieser auf den ersten Gedanken abwegige Vorschlag hat besonders dann etwas von Komik, wenn man die Macht des Geistes über den Körper noch nicht erlebt hat. Ich lächle in mich hinein, weil das hier wohl für ganz viele Teilnehmer mit diversen Maleschen die einzige erfolgversprechende Therapie ist. Ich muss doch schon recht altmodisch sein, wenn ich den alten Erziehungsgrundsatz ‚Ein Indianerherz kennt keinen Schmerz’ auch jetzt für mich anerkenne. Zu meiner deutschen Gesellschaft, in der persönliche Befindlichkeiten als oberste Handlungsmaxime geradezu geheiligt werden, kann das nur unversöhnlich im Widerstreit zur modernen Psychologisierung stehen. Belastungen aushalten und für ein angestrebtes Ziel Schmerzen ertragen zu lernen, kann in einer auf Individualisierung ausgerichteten Welt keinen höheren Wert haben.

Geradezu magisch ist natürlich der Wendepunkt in Brest, weil uns dort die Richtungsänderung dem Ziel Paris auch geographisch wieder näher bringt. Die psychische Wirkung für die Moral, lässt sich an der Anzahl der Abbrecher ablesen. Nach Brest sollen es mit 3 % nur sehr wenige Abbrecher geben, obwohl noch einmal die gleich lange Strecke vor uns liegt.

Eine freundliche Kanadierin schließt sich uns an und auch sie bremst mich am Berg. Wenn ich ihr und Martin am Berg etwas davonfahre, warte ich im flacheren Bereich wieder. Direkt hinter der Kontrollstelle ist die Strecke für fast zwanzig Kilometer ungenügend ausgeschildert. Gerade jetzt überholt uns trotz langsamer Bergfahrt keiner und außerdem sehen wir für fast eine halbe Stunde auch keinen entgegenkommenden Fahrer, weil hier eine andere Straße für den Rückweg ausgewählt wurde. Endlich kommen wir wieder an einer Kreuzung auf die alte Strecke. Es gibt dem Gemütszustand einen Motivationsschub, denn es kommen uns bis nach Carhaix viele Fahrer entgegen, die noch nach Brest unterwegs sind. Wir spornen sie durch vielsprachige Zurufe an, denn einige kämpfen doch schon einigermaßen an ihren Grenzen, andere erscheinen irgendwie entrückt. Martin errechnet immer wieder, wie hoch ihr Zeitpolster für das Erreichen der Kontrollstelle noch sein müsste.

Die Sonne wärmt mich und ich fühle mich immer besser, halte aber meine Zusage gegenüber Martin ein. Ihn hatte ich bei zwei Brevets in Hamburg als außerordentlich starken Rolleur im Zeitfahrstil erlebt, der jetzt durch die Reizung an der Achillessehne sich beim Tempo eines Sonntagfahrers noch quälen muss. Jetzt bekommt das Sprichwort ‚über den Berg sein’ einmal die topografische mit dem ‚Col Roc Trevezel’ und zum anderen eine mentale Bedeutung, weil man auf der Rückfahrt unterwegs ist. Ein wenig spüre ich auch die zweite Luft, von der erfahrene Langstreckenfahrer sprechen. Sie beflügelt und schiebt mich emotional dem Ziel entgegen.

 

Carhaix Plouguer, zurückgelegte Strecke 696 km, Rückweg

In Carhaix gehe ich wieder zum Roten Kreuz zu einer Massage, so dass auch die Seiten in meinem Kontrollbuch mit Eintragungen für medizinische Behandlungen fast gefüllt sind.

Da ich das für Großküchen ausreichend gute Kantinenessen nicht verschmähe, bestelle ich hier ein Mehrsternemenü mit Fisch, Reis und exzellenter Soße dazu. Die Körperarbeit und der Hunger geben einen weiteren guten Grund für diese Reise, denn sie vermitteln sogar das touristische Lebensgefühl, ein schlemmender Gott in Frankreich zu sein. Die Geschmacksnerven scheinen besonders sensibel und honorieren die Leckerbissen.

Auf dem Weg nach Loudéac fahren wir zeitweise in einer größeren unübersichtlichen Gruppe und irgendwann stelle ich fest, dass ich Martin verloren habe.

Während doch eine ganze Reihe Liegeräder auf der Strecke zu sehen sind, gibt es nur eine handvoll Falträder. Ich habe bei PBP 2003 mindestens 2 Moulton und 2 Bike Fridays (Rennversion) an neueren Modellen gesehen. Besondere Freude macht mir die Begegnung mit dem Australier Dave, der mit seinem Moulton aus dem Jahre 1967 unterwegs ist. Aber das, was beeindruckend ist: Er fährt mit einer Duomatik (2 Gang-Nabenschaltung). Dave ist 2 Jahre jünger als sein Fahrrad und sportlich in sehr guter Verfassung. Wenn ich allerdings mit ihm fahre, komme ich mir mit meinen 20 Gängen doch übermäßig ausgerüstet vor, obwohl ich den Übersetzungsbereich auf dem extrem hügeligen Gelände gut gebrauchen kann. Da ich leider gelegentlich wieder Knieschmerzen habe, muss es schon erheiternd aussehen, wenn ich mich mit meiner high-tech Maschine in seinem Windschatten verstecke. Besonderen Spaß haben wir miteinander über eine halbe Stunde, die wir nebeneinander herfahren, als wir die in der britischen Presse von einigen Monaten aufgeworfene Frage diskutieren, ob wir Deutsche - keinen - Humor hätten. Seine Radwahl begründet er damit, dass er 1999 mit einem Rennrad zu schnell gefahren war und von der Landschaft und den Leuten nicht viel gesehen hatte. 2003 hält er häufig an den von den Anwohnern in den Dörfern aufgebauten Ständen auf der Strecke an, um deren freie Verköstigung und die darauf angelegte Gastfreundschaft zu genießen. Zwischenzeitlich folge ich in einer Schmerzphase einem von einem Pärchen angetriebenem Tandem aus Kanada. Eine andere Tempoeinteilung wird deutlich und für meinen Zustand ist es vorzüglich: am Berg sind sie sehr langsam, um dann allerdings bergab mit einer hohen gefühlten Geschwindigkeit zu rasen. Dabei brauche ich sogar die größte Übersetzung 53/12 zum Mittreten, weil die Windschattenwirkung allein nicht mehr ausreicht. Für ihre Anstrengungen versorge ich sie im Gegenzug mit Bonbons. An manchen Anstiegen scheinen aber Tandems auf dem Asphalt zu kleben und mir fällt wieder ein ganz alter Kalauer ein.

                   Zwei Radfahrer keuchen auf ihrem Tandem den Berg hinauf. Oben angekommen

                   stöhnt der Vordermann: „Was für eine Quälerei, ehe man so 'nen Berg geschafft

                   hat.“

                   „Genau“, sagt der andere, „und wenn ich nicht die ganze Zeit die Bremse gezogen

                   hätte, ... wären wir glatt den Berg rückwärts runtergerollt.“

Immer mehr Fahrer fahren allein, ihre Räder stehen geradezu an den Steigungen, weil sie mit sich selbst beschäftigt sind und nur noch den eigenen Rhythmus fahren können. An der Belastungsgrenze wird man auf seine Grundbedürfnisse zurückgeworfen. Die Wichtigkeit und Reihenfolge der Bedürfnisse ist unmittelbar zu erleben und entzieht sich einer bewussten Entscheidung.

 

Loudéac, zurückgelegte Strecke 773 km, Rückweg

Meine Frau wird inzwischen wieder von Jürgen über die passierten Kontrollstellen informiert. Da er meine ganze Vorbereitung mitbekommen und die elektrischen Verbindungen meiner 12 Volt ‚Flutlichtanlage’ fachmännisch erstellt hatte, ist sein mitfühlendes Bedauern mir ein wirklicher Trost.

An der Kontrollstelle rufe ich Brigitte an, um meine Ankunft für die Nacht anzumelden. Mir wird klar, wie viel schwieriger die Kommunikation in der Vor-Handy-Zeit gewesen sein muss. Gerne hätte ich es einigen Franzosen gleichgetan und dem alten Reim von Wilhelm Busch zugesprochen: ‚Rotwein ist für alten Knaben, eine von den besten Gaben’ und beim Essen ein Gläschen Rotwein genossen. Aber wacher wird man davon sicherlich nicht.

Eine kleine deutsche Gruppe bildet sich mit Martin, Benno, dem voll tätowiertem Jens aus Kiel und mir. Unsere Gruppe wächst immer stärker an, weil viele wieder von unserem Nabendynamolicht profitieren wollen. Ein junger schneller Franzose, nach seiner Maschine mehr ein Carbonneur als ein Randonneur, zeigt Interesse an meinem guten Licht. Er hatte wegen eines Defektes seine schnelle 80 Stunden Gruppe und vor allem das Begleitfahrzeug verpasst und musste mangels warmer Kleidung die 2. Nacht zwangsweise übernachten. Wir verständigen uns darauf, dass er den Windschatten macht und ich ihm den Weg ausleuchte. Das Geschäft ‚Licht gegen Windschatten’ funktioniert über 40 km ganz vorzüglich und sehr schnell bis zur Kontrollstelle. Auch wenn sich Schlagloch auf französisch als ‚nid-de-poule’ doch sehr viel weicher anhört, ist die durchschlagende Wirkung genauso unangenehm, wenn man während einer Gruppenfahrt nicht ausweichen kann und das Rad durchknallen lassen muss. Weites Ausleuchten hat gerade bei Abfahrten den risikomindernden Vorzug, ungebremst herunter brettern zu können. Nur bei scharfen und uneinsichtigen Kurven hilft auch ein leichtes Schlangenlinienfahren nicht und ich muss Tempo rausnehmen.

Plötzlich sehen wir Menschen mit Lampen auf der Straße herumfuchteln und hören die Aufforderung, auf einen kleinen Seitenweg zu einer Geheimkontrolle abzubiegen. Der Ablauf ist gewohnt wie bei den normalen Kontrollstellen. Wo es einen Wettkampf mit Regeln gibt, finden sich auch Menschen, die eine enorme Energie für den Betrug aufbringen, auch wenn sie gerade bei dieser Veranstaltung - ohne besondere Auszeichnung der Schnellsten als Sieger - den eigentlichen Wert für sich als Teilnehmer verspielen. Die ersten Geschichten über Tricksereien machen die Runde. Aber das Verhalten solcher ‚Sportkameraden’ befremdet mich nur. Erstaunlicherweise verbreiten sich solche Geschichten noch während der Veranstaltung wie ein Lauffeuer unter den Teilnehmern und Ehrenamtlichen. Es ist eine dem Wesen der Veranstaltung angepassten mobile Spielart der „Stillen Post“, deren Wahrheitsgehalt bald nicht mehr zu ergründen ist. Der Prestigewert einer erfolgreichen Teilnahme mag ja außerordentlich hoch sein, aber PBP fahre ich vor allem für mich und auch wenn der Ausdruck unmodern ist, widerspricht das meinem Ehrgefühl.

 

Tinténiac, zurückgelegte Strecke 858 km, Rückweg

In Tinteniac fahre ich kurz vor Mitternacht nach der Kontrolle einen Kilometer zurück zum Campingplatz, wo ich schon erwartet werde. Anja hatte ihr Zelt neben unserem Wohnwagen aufgestellt, so dass sich die Frauen gegenseitig helfen können. Bernd war schon aufgestanden und will gerade weiter. Nach einer kurzen Beratung entschließe ich mich zu einer längeren Pause, weil ich davon ausgehen muss, dass ich bei meinem gedrosselten Tempo zumindest in die letzte Nacht von Donnerstag auf Freitag noch hineinfahren werde. Ich will hier meine letzte lange Pause machen, weil ich scheinbar gerade nach längerem Ruhen immer große Schwierigkeiten mit dem Knie bekomme. Bernd ist angespannt und fröstelt ein wenig, fährt dann los und seiner neuen Bestzeit entgegen.

Welch ein Luxus ist für mich vorbereitet. Während ich dusche, macht die Liebste ein 3 gängiges Menü servierfertig. Nach dem Essen geht es ins Bett, wo ich noch eine Kniemassage erhalte. Genau 8 Stunden verweile ich dort. Der Schlaf ist wegen des Knies unruhig und die Selbstbeherrschung gegenüber der vertrauten Ehefrau ist sicherlich geringer. Die Perspektive einer vorstellbaren Tagesetappe von 366 km bis zum Ziel ist allerdings erleichternd. Mein Anblick im Bett erheitert Anja am Morgen so sehr, dass sie erst einmal ein Foto von mir macht.

So ganz einfach hat es Brigitte ja nicht mit dem Wohnwagengespann in den verwinkelten Straßen der kleinen Städte. Das Fahren selbst ist sie geübt, aber das enge Rangieren war ihr bisher nicht immer so leicht gefallen. Aber allein und ohne meine ‚Hilfen’ meistert sie das Gespann wohl besser. Sie schläft während PBP wahrscheinlich kaum mehr als ich.

Es ist angenehm in frische Radkleidung zu steigen und den langsam wund werdenden Hintern noch einmal einzucremen. Tags reichen Trikot und Hose in kurz, während ich Nachts ein langes Trikot und Beinlinge überziehe. Die Trinkflaschen sind gefüllt, die Lenkertasche mit Kraftnahrung voll. Nach dem Müsli geht es wieder auf Tour. Ich Hinkebein werde von meiner Frau bis zur Straße begleitet, wo vereinzelnd Teilnehmer vorbeikommen. Ganz langsam steige ich aufs Rad und ebenso langsam geht die Tretmühle wieder los. Ein wenig verdreht kommt mir mein freudiges Empfinden über die letzten Etappen schon vor. Nach 800 km verlieren die letzten 366 km jeden Schrecken. Aber was ist das für eine fantastische Perspektive, denn mit etwas Glück erreiche ich heute Nacht wieder Paris. Gleich und mäßig schnell fahre ich erst mit einigen Dänen mit, die aber untereinander die schlechte Stimmung einer Zwangsgemeinschaft mit blank liegenden Nerven haben und sich wahrscheinlich besser getrennt hätten. Als die Wikinger zum unabgestimmten versprengten Gruppenpinkeln halten, finde ich einen erschöpften aber netten Italiener, mit dem ich mich ein wenig auf Europäisch unterhalte. Ich rede Spanisch und er spricht Italienisch und natürlich über PBP.

 

Fougères, zurückgelegte Strecke 914 km, Rückweg

Noch einmal nutze ich den Service und schreibe Postkarten, esse vorsorglich ein kleines Nudelgericht, um gleich wieder die Straße unter die Räder zu nehmen. Unterwegs halte ich in einem kleinen Dorf am Stand einer Familie, die Getränke und selbstgebackenen Kuchen zur kostenfreien Bedienung bereit halten. Selbstverständlich ist dort auch eine komfortable WC-Nutzung möglich, um das offene Fleisch eines Sitzknochens mit einem Pflaster zu versehen. Für diese Übung wäre natürlich eine verspiegelte Schüssel dienlich - aber das Schloss von Versailles liegt leider genau 6 km vom Ziel entfernt.

Immer wieder liegen Fahrer vom Schlaf übermannt neben ihren Rädern am Wegesrand und in den Feldern, was bei dem leichten Sonnenschein auch angenehmer ist, als die im Schweinwerferlicht aufblitzenden in Alufolie eingewickelten konturlosen Haufen in der Kälte der Nacht. Die Gedanken nehmen sich Ausgang und viele Erinnerungen leuchten auf, wobei ich den verursachenden Reiz selten in klare gedankliche Verbindung bringen kann.

Die nächtens am Wegesrand liegenden Gestalten erinnern mich an eine der jährlichen Touren mit meinem Freund Harald mit Liegerädern und MTBs. Vor zwei Jahren hatte es in der Schweiz so gegallert und später auch zu Erdrutschen und Straßensperrungen geführt, dass wir auf einer überdachten Brücke über einem Bergbach in warmen Schlafsäcken einschliefen. Später wurden wir von dem lauten bedrohlichen Gegurgel eines angeschwollenen reißenden Gebirgsflusses geweckt.

Wir überholen viele Einzelfahrer, die sich an den Auffahrten der Hügel teilweise in Schlangenlinie schwer tretend hinaufwinden. Mir fällt der Standardwitz meines Collegium Vinum ein:

Martin erzählt, wie er nach der Weinprobe nach Haus geradelt ist:

„Ich bin gefahren wie der Blitz!“

       Fragt sein Zechkumpan: „Du meinst so schnell ?“

       „Nein, nicht so schnell, aber so im Zickzack.“

Aber für diese Kämpfer ist das wohl nicht so lustig. Sie sind entweder nicht mehr ansprechbar oder reagieren zumindest nicht. Der Spaß scheint ab einer Belastungsgrenze aufzuhören, denn sie lassen sich nicht mehr aufheitern. Sie führen einen übermüdeten einsamen Kampf mit und gegen sich selbst. In dem Erschöpfungszustand kann man wohl nur noch seinen eigenen Striemel fahren, weil die Kraft zur Anpassung und Reaktion auf die Dynamik und Fremdbestimmung einer Gruppe fehlen. Ein häufig zitierter Spruch in der Randonneurszene lautet: Wenn die Beine dem Kopf mitteilen, dass sie nicht mehr können, muss der Kopf in der Lage sein zu sagen: "Danke für diese Information, aber wir machen sowieso weiter." Diese Einstellung auch den Schmerzen gegenüber überhöhen das Selbstverständnis durch den Sieg des Geistes über den Körper.

Häufig geht es auf Höhenwegen entlang, wo dem Auge bei schweifendem Blick Abwechslung mit Fernsicht geboten wird. Die Streckenführung hat etwas von einem Landschaftspark, der aus einer Werbebroschüre für Touristen ausgeschnitten zu sein scheint. Die Sonne strahlt bei leichtem Rückenwind und macht diese Phase zu einer Ausflugstour, auf der der Weg selbst wieder zum Ziel wird.

 

Ich fahre mich in einen Geschwindigkeitsrausch, der volle Konzentration auf die Straße und die anderen Teilnehmer abverlangt. Als geübter Gruppenfahrer fühle ich mich natürlich auch für die Folgenden mit verantwortlich. Vorne fahrend darf ich erst recht keine Kurve noch den Belag falsch einschätzen und muss die Folgenden auf gefährliche Stellen hinweisen. Bin ich einige Positionen hinter dem Windschattenmacher, versuche ich die Bewegungen innerhalb des Feldes zu deuten, gehe die Wellen mit und bin stets bremsbereit, um nicht überrascht zu werden.

Passend zum welligen Geländeprofil erfährt hier jeder auch gefühlsmäßig Höhen und Tiefen.

Wir kommen an einem Friedhof vorbei und mir fällt ein schwäbischer Witz ein und ich denke, dass bei meinem erschöpften Aussehen, jeder Richter dem Angeklagten mildernde Gründe beim Strafmaß zugestünde, wenn ich mein Rad gegen die Kirchhofmauer lehnte ....

         Der Richter examiniert den Angeklagten: »Warum haben Sie das Fahrrad gestohlen?«

         Der Angeklagte: »Herr Richter. I han das Rädle net gestohle. Als i des Rädle an de

         Kirchhofmauer hab lehne sehn, han i denkt, sei Besitzer sei geschtorbe.«

In einem Dorf kommt mir bei der örtlichen Nähe von Kirche und Friedhof, von Leben und Tod, der Klassiker in den Sinn, der zumeist auf Angler und Golfer bezogen wird, aber der noch viel treffender uns PBP-Randonneure kennzeichnen mag.

Ein Leichenzug ist in einem an der PBP-Strecke liegenden Ort auf dem Weg zum Friedhof. Der mehrfache PBP-Ancien kommt gerade auf dem Weg zwischen Kirche und Friedhof mit anderen Teilnehmern an dem Leichenzug vorbei. Er hält an, klickt die Pedalen aus, nimmt den Helm ab und verneigt sich vor dem Leichenzug. Seine ebenso verweilenden Mitfahrer sind von der Geste beeindruckt und sprechen ihn darauf an. Der Randonneur erwidert: "Ach wisst ihr, das gehört sich einfach so, wenn man 30 Jahre miteinander verheiratet war!"

 

Rennfahrergefühle – Die große Jagd

 

Als philosophische Bestimmung ließe sich der Sinn auf eine Kurzformel bringen: Ich radel, also bin ich. Das Paradox der freiwilligen Selbstquälerei erklärt sich mit der Annahme einer definierten Herausforderung. Die Freiheit der Entscheidung unter den vorgegebenen Bedingungen daran teilzunehmen, erhebt die Veranstaltung zu einer Prüfung, die es zu bestehen gilt. Gelegentlich erlebe ich eine fast träumerische Selbstvergessenheit, die sich sogar mit einem Entzücken am Dahinrollen verbindet.

Die Dauer der Strecke verändert auch den Fahrer. Es gibt ruhige, friedliche Situationen, in denen ich eins mit meinem Rad und der durchradelten Landschaft bin. Ich radel als Teil des Ganzen beschaulich durch herausgeputzte Dörfer und abgeerntete Felder dahin.

Manchmal haben meine Gefühle aber auch etwas Kämpferisches, Archaisches: Wenn ein schnellerer Radler überholt, spüre ich ein Zucken in meinem Körper, ich will mitgehen, mich ihm anschließen. Noch stärker ist das Rudelgefühl bei einer vorbeiziehenden Gruppe, um mit einigen beschleunigenden Tritten deren Tempo aufzunehmen. Mein Jagdinstinkt wird geweckt und ich würde mich gerne an dem Beutezug beteiligen, mich der hetzenden Meute anschließen und später selbst die wilde Hatz weiter bis zur Erschöpfung anfachen. Mal dröhnen wir, wie eine Büffelherde in der Prärie, ohne Rücksicht auf Verluste über Kopfsteinpflaster durch einen verkehrsberuhigten Ort. Kurze Zeit später gleite ich einem Kranich auf der Vogelfluglinie gleich ohne Anstrengung auf der Perlenschnur aufgereiht ruhig im Windschatten und genieße die Leichtigkeit des Fortkommens und finde bei weitgehend aufrechter Sitzweise sogar Zeit für die Schönheit des Landstrichs. Bei der nächsten längeren Abfahrt fühle ich mich wie ein Adler im lautlosen Sturzflug, als gäbe es ein Opfer zu überraschen.

Plötzlich wird das Tempo zügiger, dann schneller, dann geht ein Ruck durch die Gruppe, die sich wie ein Gummiband spannt. Die Hände greifen in die untere Griffposition, um windschnittiger unter dem Fahrtwind wegzutauchen.

Die nächste Steigung wird für die Gruppe zum Scharfrichter und sprengt diese Eintracht, erst streckt sich die große Gruppe in die Länge, bis die schwächsten Glieder der Kette langsam reißen, Löcher entstehen und der Windschatten abreißt.

Nach dem Scheitelpunkt beginnt das Spiel von neuem. Nach dem Geschwindigkeitsrausch bei der Abfahrt, reihen sich immer mehr aufgefahrene Fahrer wieder ein, Erschöpfte werden nach hinten durchgereicht oder lassen sich durchfallen, die Gruppe wächst wieder bis zum nächsten Anstieg.

Kaum taucht vor mir ein Trikot in der Ferne auf, spüre ich eine bewusst kaum kontrollierbare  Anziehungskraft, die mich schneller fahren lässt, als es gelegentlich für meine Wehwehchen bekömmlich ist. Der Farbtupfer ist solange meine Beute, bis ich bei ihm aufgeschlossen habe. Als Überholer grüße ich immer, habe Freude aufgrund des Trikots die richtige Landesansprache zu finden und wechsle einige Worte. Je länger die zurückgelegte Strecke, um so schwieriger wird die Unterhaltung mit den Einzelkämpfern, bis meiner Ansprache zum Ende hin häufig nur einsilbig, fast abwehrend begegnet wird.

Leider ist das euphorische Gefühl nicht von Dauer. Trotzdem reißt es mich in beschwerdefreien Phasen immer wieder mit schnellen Gruppen fort einen Angriff mitzugehen. Der Verstand beurteilt die Attacke richtig, denn sie hat ja selbst keine eigenen langfristigen Absichten, sondern gefährdet mit solch erschöpfenden Zwischensprints das eigentliche Endziel, das Erreichen von Paris. Ein Glücksgefühl überkommt mich trotzdem bei der rasenden Fahrt im dahinschießenden Rudel schwer atmender schweißtreibender Körper und kulminiert fast in einem Rausch, wenn ich von einer Anhöhe bergab in eine Senke hinunterschieße und die Erdenschwere für Momente zu überwinden scheine, dort aus dem Sattel gehe, als ginge es einen kapitalen Hirsch auf einer Treibjagd zu Tode zu hetzen. Die Sinne sind vollständig auf den Moment des Hier und Jetzt konzentriert. Ich gehe als kleines Element auf in dieser dahinschlängelnden Kette der an so vielen Orten gleichzeitig stattfindenden Mammutveranstaltung - in dem, was eine Seite der Faszination diese Veranstaltung ausmacht. Nur meine Kniebeschwerde schaltet immer wieder den Verstand ein, um das große Ziel nicht zu gefährden.

Ich philosophiere vor mich hin, ob es eine Ethik des Kampfes auch bei einer Ausdauersportart geben kann. Es gibt auf einer mehrtägigen Veranstaltung mehr als die normative Kraft der Regeln. Sicherlich fehlt einer solchen Ethik die konkrete Komponente ‚Mann gegen Mann’. Aber die sich aus den speziellen Situationen bedingenden Rollen einer funktionierende Gruppe ermöglichen ein weites Spektrum. Einmal werde ich Sieger und dann machen mich stärkere Fahrer zum Verlierer, indem sie an mir vorbeiziehen. Einerseits sind andere Gegner und dann wieder Teamkollegen, wenn es im Stile des Mannschaftszeitfahren in rasanter Fahrt voran geht. Natürlich braucht man auch moralische Kriterien für den Umgang mit sich selbst zur Bewältigung diverser Grenzerfahrungen.

Die Veranstaltung ist gerade für die kleinen Orte der Normandie und Bretagne eine Ehre, so dass viele Anwohner nicht nur für die internationalen Teilnehmer, sondern auch zu Ehren der Pariser Organisation und natürlich auch für sich ein mehrtägiges Fest daraus zu feiern wissen: Die Ortsstraße ist die Bühne auf der die Fahrer als willkommene Akteure unter Beifall durchziehen.

Nach dem Essen und Trinken an der Kontrollstelle trolle ich mich mit vollem Magen wieder auf die Strecke und kann mir gar nicht vorstellen, mich noch einmal an einer weiteren großen Jagd zu beteiligen. Schwergängig trete ich die Pedalen und bewege langsam die Kurbel bis ich den eigenen Rhythmus wieder gefunden habe. Aber nach einer Aufwärmphase stellt sich erneut das befreiende Gefühl ein, die Evolution mit der Fahrradtechnik überwinden zu können. Nach mehr als einem Jahrhundert kann ich nachempfinden, warum der begeisterte Radfahrer und Journalist Pier Gefford solch eine wunderschöne Veranstaltung initiiert hat. Allein das schnelle lautlose Dahingleiten ist einerseits durch die Technik systembedingt, andererseits kommen in Phasen der Anspannung und des Überholens auch Gefühle der Pirsch in mir hoch.

Zwischendurch bin ich mir meines Bewusstseinsgrades über das, was Wirklichkeit ist, nicht sicher. Lebe ich eine unbestimmbar lange Zeit einen ersehnten Traum oder bewege ich mich in wahrnehmungsreduzierter Trance aus Gewohnheit weiter? Meist fahre ich aber bewusst mit klarem Blick durch die Landschaft und dann gibt es Phasen, in denen mir nur meine Wehwehchen beweisen, dass kein 3D Film an seitlich ‚Leinwänden’ an mir vorbeiläuft.

Es ist praktisch, wenn schlaue Leute schon grundlegende Weisheiten erdacht haben: Shakespeare hat festgestellt: „Jedes Ding wird mit mehr Genuss erjagt als genossen.“

 

Villaines-la-Juhel, zurückgelegte Strecke 997 km, Rückweg

Der gute Sattel und richtiges Sitzen entscheiden über Wohl oder Wehe. Es ist aber nur eine Frage der Distanz und Dauer bis bei fast allen das Wehe gewinnt. Noch komischer als normal mit den Radfahrerschuhen sieht das staksige Gehen der Sportkameraden nach dieser Distanz aus. Brigitte überrascht mich an der vorletzten Kontrollstelle in Villaines und durchläuft mit mir die schon gewohnte Prozedur: Das Rad wird ungesichert an Absperrbügel angelehnt, zuerst gehen wir zur ‚Control’ für die Zeiterfassung, um nicht den Stempel zu vergessen. Danach suchen wir auf einem kleinen und engen reservierten Parkplatz unseren Versorgungswagen, um dort eine Portion Nudeln und sogar Nachtisch zu verspeisen.

Inzwischen habe ich mich an beiden Stellen meiner vier Buchstaben bis aufs Fleisch wundgesessen. Die Beschwerden am Allerwertesten sind zwar unangenehm aber noch nicht bedrohlich. Brigitte erneuert ein Spezialpflaster für Blasen treffgenauer als ich es allein hinbekommen hatte. Es soll sich als zweite Haut über die offene Stelle legen, um das Scheuern zu mildern und  wasser-, schmutz- und bakterienabweisend wirken.

Nach meiner Weiterfahrt treibt mich der Wind wie ein Blatt für fast 2 Stunden vor sich her. Das wellige Terrain verliert dann die Giftigkeit an den Auffahrten. Erst die Dämmerung nimmt den günstigen Winden den Atem. Meine Frau berichtet, dass Martin kurz vor meiner Ankunft gerade dort abgefahren ist. Irgendwie bin ich der Hase und er der Igel, den ich auch jetzt wieder vor mir habe und bald auffahren werde.

Für viele kleine Dörfer ist PBP eine nur alle 4 Jahre auftretende 5. Jahreszeit, die Anlass gibt, zumindest den ansonsten beschaulichen Ort herauszuputzen oder gar ein Spektakel für das internationale Fahrerfeld und die Bewohner zu veranstalten. Ein großes Volksfest zieht sich entlang der Strecke von Paris bis an den Atlantik. Über die Straße gespannte Transparente heißen die Fahrer willkommen. Mehrfach sind in liebevoller Kleinarbeit an alten Fahrradrahmen befestigte Blumengestecke aufgestellt ... und ich glaube, ich halluziniere ... oder ist der Sattel ernsthaft mit einem dornigen Rosenkranz geschmückt. Die Leute verstehen floristisches Können und radsportlichen Sachverstand zu einem Witz zu verbinden, denn solch Sitzgefühl dürften jetzt viele Radfahrer haben.

 

Typen von Randonneuren

 

1. Der Rennfahrerrandonneur will am liebsten in neuer Rekordzeit ankommen und fährt um das virtuelle gelbe Trikot mit, während andere nur vom Erreichen im Zeitlimit träumen. Dem Renner ist alles recht, was irgendwie Geschwindigkeit und Strecke bringt. Zweckgemeinschaften werden aus rein ökonomischen Gründen solange eingegangen, wie sie Vorteile versprechen.

 

Mehrheitlich ist jedoch ‚Ankommen’ das große Ziel und einer der Leitsprüche der Randonneure. Bei den ‚Ankommern’ beobachte ich wiederum zwei extrem unterschiedliche Naturen:

 

2. Einmal ist es der Genussrandonneur, der der Gastfreundschaft der vielen kleinen Stände mit kulinarischen Köstlichkeiten nicht widerstehen kann. Er schert dafür auch ohne Bedenken aus der besten Gruppe aus, hält ein Schwätzchen, trinkt einen Kaffee zu dem berühmten Gebäck ‚Paris-Brest’ und verabschiedet sich mit der ernsten Absicht in 4 Jahren gerne wieder vorbeizuschauen. Er steigt auf das Rad und schon begeistert er sich an der wunderschönen Landschaft. Findet er einen gesprächigen Mitfahrer rollt er nebenher, um auch mit ihm im wörtlichen Sinne das erfahrene Glück der Teilnahmeberechtigung gemeinsam zu teilen. 

 

3. Der Einzelkämpferrandonneur fährt schon von Anfang an seinen eigenen Striemel, auch wenn er wie ein Fisch im ‚Schwitz’wasser großer Gruppen mitschwimmen könnte, so stören ihn die anderen eigentlich nur. Die Gespräche mit ihm haben eine komikreife Einsilbigkeit, was er einem unmissverständlich zu verstehen gibt, wenn man seine Kreise stört. Ein Bon Jour wird - wenn überhaupt mit einem Gebrummel - ohne Blickkontakt erwidert. Wahrscheinlich ist er mit sich selbst wirklich in der besten aller Gesellschaften. Schon nach einem Drittel der Strecke macht er den Eindruck, als führe er bei hellstem Sonnenschein im Dämmerzustand. Seine Beine bewegen die Kurbeln nur noch aus Gewohnheit - alles wird dem eigenen Vorankommen unterworfen. Er verrichtet seine Tretarbeit so gut er eben kann, PBP wird zu einer Kraftprobe.

Die Freude an der Radtour versteht er in einer abweisenden Form für sich allein zu behalten, als befürchtete er deren Diebstahl. Im besten Sinne haben einige die Veranstaltung als ein langes Einzelzeitfahren angenommen. Einige müssen sicherlich der Dauer der Fahrzeit ihren Tribut zollen und sind einfach nicht mehr in der Lage, den wechselnden Ansprachen und Ansprüchen einer Gruppe anders als abweisend zu begegnen. Eine bleierne Müdigkeit scheint nicht nur ihren Körper, sondern insbesondere den Geist im Griff zu haben.

Einem Italiener kann ich fast schon eine Plauderei entlocken, weil er mir sein selbst gestecktes edleres Ziel seiner Fahrweise verrät: Nur aus eigenen Kraft und ohne jede Hilfe anderer Fahrer will er die Strecke zurücklegen. Ich kann es nicht genau deuten, was mehr mitschwang: Verachtung für mich, der ihn aufforderte, sich in meinen Windschatten zu hängen, oder der Stolz auf seine über dem PBP-Reglement liegenden Anforderungen an sich selbst.

 

4. Ein ganz besonderer Typ ist der Randonneur-Dauerlutscher, der nur zufrieden ist, wenn er an seinen Vorderleuten im Windschatten so viel Körner wie nur möglich sparen kann. Damit ist nicht der wegen eines Leidens zur defensiven Fahrweise gezwungene Kämpfer gemeint, sondern der Fahrer, der mit Geschick seine Pedale als Trittbrett zu benutzen versteht. Er findet hier genügend unvoreingenommene Opfer an deren Hinterräder er sich das zurückholen kann, was ihm aufgrund einer höheren Gerechtigkeit ohnehin nur zugestanden hat. Wird er aufgefordert nicht nur Vorteile aus der Gruppe zu ziehen, oder es spült ihn versehentlich an die Spitze der Gruppe, schert er entweder sofort aus oder versucht, durch eine ungleichmäßige Fahrweise den anderen überzeugend seine mangelnde Eignung für die Führungsarbeit beweisen zu wollen. So kann er sich über die ganze Strecke zusätzlich an seiner Vorteilsnahme ergötzen und sich damit seine schwegsche Pfiffigkeit mit jedem laufenden Kilometer bestätigen. Mir kommt in den Sinn, was so eine Mammutveranstaltung den maroden Krankenkassen an Therapiestunden sparen hilft. Schon meine amateurhaften Vorstellung von den psychoanalytischen Erklärungsansätzen für diesen Dauerlutscher nach den Lehren des ehrenwerten Herrn Freud haben etwas Erheiterndes: Möglicherweise hat er als Säugling zu früh die Flasche bekommen: Mutterbrustneid?

 

Mortagne, zurückgelegte Strecke 1077 km, Rückweg

Erst wollen Martin und ich noch auf einen Kameraden von Heino und Benno warten, um zusammen zu starten. Wir beeilen uns zwar, aber nehmen das Essen trotzdem nicht als Bikers Fast Food zu uns. Da dieser Kumpel sich allerdings ausgesprochen gemütlich beim Essen einrichtet, starte ich mit Martin im Schlepptau. In einem dunklen Tann brennt seine Birne durch und ohne Werkzeug kann er sie nicht austauschen. Jeder kennt die Comedy-Darstellung: Radtasche auf, Werkzeugtasche raus, Radtasche zu, Werkzeugtasche auf ... . Irgendwann ist die Reparatur vollbracht und wir fahren weiter. Inzwischen kommt tatsächlich die deutsche Gruppe heran und wir schließen uns zusammen. Es folgt das inzwischen bekannte Verhalten der anderen Teilnehmer. Wie die Motten ziehen unsere guten Lichter sie an und uns wird gerne die Vorfahrt in einer anwachsenden Gruppe gewährt. Auf dem letzten Abschnitt ist es stockdunkel und doch steigt die Motivation wieder, das Tempo nimmt stetig zu. Es macht richtig Spaß, die vielen giftigen Rampen klein zu fahren.

Überrascht sind wir, als wir hinter einer Kurve eine von der Polizei gestoppten Gruppe von Fahrern sehen. Irgendwie verhandeln sie wegen ihres Funzellichtes über ihre Weiterfahrt, während wir vorbeischießen. Jetzt ist das Ziel doch schon greifbar nahe und wie bei alten Ackergäulen, so werden auch wir zum Stall hin immer schneller. Es ist nur noch ein dumpfer Schmerz im Knie spürbar und es macht einfach Spaß die nicht ausgenutzten Kraftreserven in Geschwindigkeit umzusetzen. So fliegen wir Paris entgegen und es ist eine Freude die große Gruppe während der vielen kleinen Anstiege auseinander zu fahren. Im Innenstadtbereich von SQY folgen wir den diversen keine klare Himmelsrichtung weisenden Pfeilen, so dass ich nicht sicher bin, ob ein Scherzbold durch das Drehen einiger Richtungshinweise uns in eine Endlosschleife gewiesen hat. Zum Glück ist es kein Labyrinth und mit Heino, aus Großhansdorf, und Benno erreiche ich dann doch das Rondell vor dem Stadion.

 

St. Quentin-en-Yvelines, zurückgelegte Strecke 1.218 km Ziel

Die letzten 375 km von Tinteniac bis hier sollen nach Streckenblatt nur 366 km sein. Der am Übernachtungsplatz ausgetauschte Ersatztacho gab dafür an: Gefahrener Schnitt 24 km/h, max. 64 km/h. Mit etwas über 76 Stunden bin ich ins Ziel gekommen und werde dort von meiner auf mich wartenden Frau des Nachts begrüßt. Der Halt für den Begrüßungskuss hat mich insgesamt 2 Minuten im Gesamtklassement gekostet, wie die unerbittliche Zeitnahme später dokumentiert. Aber für mich ist er süß, während er für sie wohl salzig gewürzt sein muss. Überrascht sind wir Tempobolzer, dass Martin auf einmal vor uns an der Zeitnehmeruhr steht und nun immerhin mit 2 Minuten weniger in der Ergebnisliste aufgeführt ist, weil er einer anderen Ausschilderung nach gefahren sein muss. Somit erfüllt sich auch hier die Geschichte vom Hasen und Igel. Für die einlaufenden Hamburger Finisher hat die gesundende Anja Rosen besorgt und jedem eine im Ziel übergeben. Diese dornige Schönheit ist wohl die richtige Blume für diesen Anlass und gibt einem schon ein wenig Siegergefühle. Die spätere Ergebnisliste weist mich mit dem Platz 1.367 von 3.423 Finishern und über 4.000 Startern aus.

Schon im Ziel verblasst, dass man sich mehrere Tage mit wenigen Unterbrechungen so einer Tortur unterzogen und geschunden hat. Wir haben alle unsere Leidensfähigkeit auf die Probe gestellt, um damit später selbst zu dem Mythos der Veranstaltung beizutragen, wenn wir mit übernächtigten, abgespannten und ausgezehrten Gesichtern wieder in Paris einlaufen. Sicherlich sind die sprießenden Stoppelbärte auch nicht angetan, einen besseren Eindruck zu vermitteln. Aber netterweise stellen die Organisatoren ja nicht zusätzliche Spiegel auf – und die unausweichlichen im WC müssen teure Zerrspiegel sein.

 

Der Tag danach:

Den Rest, d.h. die erste Nacht nach der Zeitrechnung der Randonneure, schlafe ich sehr viel besser als die beiden PBP-Nächte. Auch wenn ich vom Schmerz im Knie immer wieder unsanft geweckt werde, fehlt der Situation die Bedrohlichkeit.

 

Vermisst habe ich eigentlich unterwegs nur die Musik des Radiosenders Klassik Radio, der dann aber in einem ‚Randonneurkonzert’ die passenden Titel hätte spielen sollen. Die Bandbreite ließe sich auch mit einigen klassischen Musikstücken beschreiben. Wunderbar hätte man die durchlebte Gefühlswelt mit Stücken von Beethoven,  Berlioz, und natürlich Wagner widerspiegeln können.

Mein Vorschlag für ein Randonneurkonzert: Am Start: Bolero; in der Nacht: Beethovens Hymne an die Nacht, Mondscheinserenade und die Titel von Holst zu den Gestirnen und natürlich Verdis Gefangenenchor; die Morgenstimmung von Gynt, bei Gruppenfahrten: Beethoven: Freude schöner Götterfunken ... Symphonie ... eines Freundes Freund zu sein; Mozart: Entführung aus dem Serail und Posthornserenade; Ravel, Dauphins et Chloé, bei zunehmenden Knieschmerzen: Hector Berlioz; Symphonie Fantastique und da den Höllenteil; im Ziel: Händel: Feuerwerksmusik.

 

Am nächsten Morgen scheint die Sonne auf den Frühstückstisch. Wir sitzen auf dem Campingplatz in der ersten Reihe, so dass fast alle Eintrudelnden an uns vorbei müssen.

Wir gratulieren und applaudieren den Hereinkommenden aller Nationalitäten, die unterschiedlich erschöpft aber überglücklich sind. Fast alle fahren aus erfindlichen Gründen nur im Wiegetritt. Man beglückwünscht sich gegenseitig und es stellt sich Zufriedenheit und sogar Stolz ein. Gelegentlich werden die Grüße abgewehrt, weil jemand zwar zurück, aber nicht die ganze Strecke geschafft hat. Unter anderem schüttelt eine kleine Italienerin traurig den lockigen Kopf. Im Duschraum treffe ich sie später und sie berichtet, dass eine Entzündung im Fußgelenk den Abbruch erzwungen habe. Als ich ihr sage, dass sie bei ihrem Alter PBP noch mindestens 10 mal fahren könne, gewinnt sie ihr Lächeln zurück.

Fußkranke des klassischen Gewaltrittes flanieren wie ausgezeichnete Kriegshelden an uns vorüber, etwas verrenkt nehmen sie mit einer Vorsicht Platz, als würden sie einen Schülerscherz auf den Stühlen erwarten.

Am Freitag um 15 Uhr radeln wir zum Ziel am Rondell, um den auf die letzten Stunde einlaufenden Finishern zuzujubeln. Viele von ihnen sind von der finalen Prüfung ihrer Strapazierfähigkeit gezeichnet. Weiße Bandagen und Halskrausen lassen einige blutige Souvenirs und unschöne Geschichten erahnen. Die wahren Helden sind jene, die mit diversen Leiden, Halsmanschetten, Armbinden, Bandagen einen langen Kampf mit sich führten und total übermüdet sich doch noch gerade vor dem Zeitlimit ins Ziel retten konnten.

Am Abend stoßen wir frisch gebackenen ‚Ancien’ mit einem Gläschen des berühmten weltbekannten Schaumweines auf die bestandene Prüfung an. Nach einer solchen Reise weiß jeder mit aufregenden Geschichten zu unterhalten. Mit Spannung hören wir den vielen Erzählungen von interessanten Begegnungen, gefährlichen Stürzen, ärgerlichen Pannen und überraschenden Erlebnissen zu. Zum Glück kann ich wenig beitragen, da ich keinen Platten und keinen anderen Defekt hatte.

 

Nachklang:

Vor einigen Monaten habe ich die Radfernfahrt Paris-Brest-Paris über 1200 km, für die ein Zeitlimit von 90 Stunden vorgegeben ist, beendet und ein nachhaltiges Gefühl hat mich ergriffen, damit eine große Prüfung abgelegt zu haben. Es ist unangefochten das aufregendste und anstrengendste meines an vielen Raderlebnissen reichen Lebens.

Das Ziel ist erreicht, zum auserwählten Kreis der PBP-Ancien - oder international ausgedrückt zu den Finishern - zu gehören.

Die körperlichen Nachwirkungen sind ganz unterschiedlich: Während das Knie sich innerhalb einer Woche fast wieder normal bewegen lässt, sind die Muskeln wohl nicht überlastet worden. Ein ganz leichtes Kribbeln verspüre ich noch 2 Monate danach unter den Ballen und Zehen. Merkwürdig sind die schlappen Arme und Hände, mit denen ich noch nicht die volle Kraft entfalten kann. Wie häufig ich geschaltet haben muss, habe ich die erste Woche an dem Muskelkater der Finger verspürt. Meine im Winter immer wieder auftretenden radfahrerischen Handicaps hatte ich bei PBP gar nicht gemerkt. Mehr oder weniger haben mir auf der Tour natürlich einige Körperteile geschmerzt - aber in meinem Alter ist das ja auch irgendwie ein Lebenszeichen!

Wer in einigen Fremdsprachen bewandert ist, kann hier den in Deutschland ausgehöhlten Begriff ‚multikulturell’ in schönsten Facetten erleben. Alle haben für diese Woche ein gemeinsames Ziel und abgesehen von Eigenbrödlern und völlig erschöpften Einzelkämpfern mischt sich das Feld stark, es sortiert sich nach anderen Kriterien als dem der Nationalität und alle Beteiligten machen es zu einem großartigen Fest.

Extra griffbereit waren meine Visitenkarten in der Lenkertasche untergebracht und mit dem Segen des Internet bin ich Mitglied einer globalen Gemeinschaft, die sich mit irgendwelchen Hinweisen auf Berichte immer wieder an das schöne Ereignis gegenseitig erinnert.

Ein Randonneur soll gesagt haben, dass derjenige, der das Ziel in Paris erreicht, nicht mehr derselbe sei, der er beim Aufbruch nach Brest gewesen wäre. Es stimmt: zumindest ist er 3 Tage älter, stinkend vor Schweiß, unrasiert, erschöpft und müde, aber auch stolz und glücklich. Und spätestens jetzt bin ich ein wirklicher ‚Audax Randonneur’, ein verwegener Radfahrer. Die Gefühlsintensität korrespondiert zu der Länge der Strecke. Sie ist nicht überschäumend, aber scheint dafür anhaltend zu sein. In der Erinnerung fangen die Entfernungen und Zeiten zu schrumpfen an, sowie die Abfolge von erinnerbaren Ereignissen anderen Regeln zu folgen.

Die Verdichtung von so vielen eindrucksvollen Erlebnissen in wenigen Tagen führt sicherlich zu Überlagerungen, so dass man auf der Strecke immer weniger wirklich bewusst erlebt. Max Frisch hat dafür den bezeichnenden Ausdruck ‚verdünnte Zeit’ benutzt. Aber mir schwant, dass im zeitlichen Abstand zum Erlebnis PBP doch bei dem Lesen anderer Berichte eine ‚nachverdickende’ Zeit sich auftut. Bei mir werden Details auch nach starker Wahrnehmungsverdichtung scheinbar auf einer anderen Gedächtnisebene gespeichert, die zwar nicht mehr bewusst - aber durch Fotos und Beschreibungen assoziativ wieder zum Leben erweckt werden können. Die ‚Dekomprimierung’ gilt für kurze Sequenzen, die ich nicht immer genau in den zeitlichen Ablauf einordnen kann.

Bernd beschreibt das Nachgefühl nach über einem Monat: „Heute Morgen dann ein Hinweis auf neue PBP-Berichte .. in der Mailbox. Ehe ich mich versehe, sitze ich vor dem Rechner, lese und vergesse die reale Welt um mich herum. Da ist es wieder, dieses Gefühl. Dieses Gefühl, dass so vieles von der Faszination dieses Ereignisses ausmacht, das Paris-Brest-Paris heißt. Mit einem Mal ist man wieder mittendrin in all den Qualen, den Freuden, der Begeisterung und all dem Anderen, dass man nur dann so richtig verstehen kann, wenn man schon einmal mit schmerzendem Hintern in den letzten Kreisverkehr vor dem Ziel in Guyancourt eingebogen ist.“ 

Einige Wochen sind seit PBP 2003 erst vergangen und doch fange ich an, mich auf die nächste Veranstaltung in 3 Jahren und einigen Monaten zu freuen. Au revoir PBP !

 

Wer diesen Bericht mit Freude bis zum Ende gelesen hat, sollte ihn mit einem Radlerwitz entgelten und damit dazu beitragen, dass  2007 noch unterhaltsamer wird: gehrmann-wunstorf@t-online.de